„Wien ist voller Echos für mich“
Anlässlich der Aktion „Eine Stadt. Ein Buch“ist der Bestseller-Autor Edmund de Waal zu Gast in Wien. Die „Krone“bat ihn zum Interview.
Als der britische Autor und Keramikkünstler Edmund de Waal vor elf Jahren die Geschichte seiner Familie aufschrieb, glaubte er nicht daran, dass sie auch irgendjemand lesen würde. „Es war mir einfach ein inneres Bedürfnis, sie festzuhalten und so zu den Wurzeln meiner Ahnen zurückzukehren.“
Mittlerweile ist „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ein Weltbestseller, zahlreiche Menschen kommen extra nach Wien, um auf den Spuren der einflussreichen Bankiersfamilie Ephrussi zu wandeln, die einst von den Nazis ausgelöscht wurde. In diesem Jahr wurde der aufrüttelnde Bestseller für die nun beginnende Wiener Gratisbuchaktion „Eine Stadt. Ein Buch“ausgewählt. „Was für eine Ehre. Dass die Geschichte meiner Familie auf diese wunderbare Art nach Wien zurückkehrt, hätte ich mir nie vorstellen können“, freut sich de Waal, als ihn die „Krone“im Hotel Imperial zum Interview bittet. „Besonders bedeutend auch, weil dies in einer Zeit geschieht, in der der Antisemitismus in so vielen Ländern wieder ansteigt. In einer Krise suchen Menschen oft einen Schuldigen – und das sind für viele tragischerweise wieder die Juden.“
Zu Wien hat der Autor mittlerweile selbst ein sehr inniges Verhältnis. „Die Stadt ist voller Echos für mich.“Ein erster Weg führt ihn immer zum einstigen Palais der Familie seines Großonkels, dem Palais Schey. „An der Tür ist ein Wolfskopf, dem mein von mir sehr geliebter Großonkel bei jedem Wien-Besuch Hallo gesagt hat“, schmunzelt de Waal. „Nun mache ich das für ihn.“
Ein bedeutendes Signal für die Annäherung an das Land seiner vertriebenen Familie war, dass Österreich den Opfern des NS-Regimes und auch ihren Nachfahren das Recht auf die Staatsbürgerschaft erteilte. „Mein Vater hat seinen Großvater sehr geliebt. Dieser starb in England als Flüchtling, als Staatenloser ohne Heimat“, erzählt de Waal. „Deswegen
war es für meinen Vater so wichtig, die österreichische Staatsbürgerschaft in seinem Gedenken anzunehmen. Das zeigt auch, wie nahe die Geschichte der Nazi-Zeit immer noch ist – sie ist keine weit entfernte Vergangenheit, sondern zum Greifen nahe.“Auch de Waal selbst wird die Staatsbürgerschaft beantragen .„ Ich bin durch und durch ein Europäer. Das wird einem allerdings im vom Brexit vergifteten Großbritannien nicht leicht gemacht.“
Als Europäer ist Edmund de Waal ständig auf Achse. Als ihn die Corona-Lockdowns zum Stillstand zwangen, reiste er eben im Kopf. Und zwar erneut in die Vergangenheit. In ungewöhnlicher und sehr persönlicher Briefform schrieb er die Geschichte des Bankiers Moïse de Camondo nieder, der in Paris gleich neben dem französischen Zweig der Ephrussis wohnte. „Geschichte ist nicht Vergangenheit, sie hört nie auf und entfaltet sich in unseren Händen“, heißt es in diesem kürzlich erschienen Buch „Camondo“. Und so ist auch de Waal noch lange nicht fertig mit der Geschichte. Oder wie er es ausdrückt: „Ich glaube, die Geschichte ist noch nicht fertig mit mir . . .“