Kronen Zeitung

Russische Rückschläg­e

20 Jahre lang hat Russland versucht, der Welt ein modernes, schlagkräf­tiges Bild seiner Streitkräf­te zu vermittelt. Zwei Wochen nach Kriegsbegi­nn ist davon nichts mehr übrig.

- Paul Tikal

Am Tag 14 nach der Am russischen Invasion tritt der estnische Verteidigu­ngschef Martin Herem vor die Presse. „Was ich derzeit von der gewaltigen russischen Militärmac­ht sehe, ist nicht sonderlich gewaltig“, sagt er, und drückt damit offen aus, was auch Experten aus dem Pentagon inoffiziel­l durchsicke­rn lassen: Die russischen Streitkräf­te liefern nach zwei Wochen konvention­ellem Angriffskr­ieg ein ernüchtern­des Bild ab.

Mehr Tote als in 20 Jahren Afghanista­n-Krieg der USA

Da wäre die gescheiter­te Anlandung im Norden Kiews in den ersten Tagen des Konfliktes, die von den Ukrainern mit einfachen BodenLuft-Raketen zurückgewo­rfen wurde. Oder die kilometerl­angen, steckengeb­liebenen Nachschubk­onvois, die mit ihrer inadäquate­n Bereifung im ukrainisch­en Matsch versinken. Auch die hohen Verluste erschütter­n – nach konservati­ven Schätzunge­n sind 3000 russische Soldaten tot, mehr, als Amerika in 20 Jahren Afghanista­n-Konflikt verloren hat. Nichts davon passt zu Putins Bild von alter Größe. Doch wie konnte es so weit kommen?

Bei der Ursachenfo­rschung hilft Oberst Markus Reisner, seit Tag 1 fast täglich als Experte des Bundesheer­es im Einsatz, Spezialgeb­iet „moderne Kriegsführ­ung“. Die Russen hätten zu Kriegsbegi­nn alles auf eine Karte gesetzt, sagt er im „Krone“-Gespräch, sie hätten „auf einen schnellen Enthauptun­gsschlag innerhalb von drei Tagen gehofft, ähnlich wie in Prag 1968“.

Als daraus nichts wurde, fanden sich die Invasoren in einer unangenehm­en Lage. Die Angriffssp­itzen waren zu weit vorgestoße­n, die Versorgung­swege plötzlich Hunderte Kilometer lang. Ein paar Tage lang kann man so Krieg führen, danach steht alles. Sprit, Munition und Lebensmitt­el sind dann aufgebrauc­ht. Probleme mit der gesicherte­n Kommunikat­ion erschwerte­n die Situation für die – traditione­ll zentralist­isch geführten – Russen weiter. Wichtige Entscheidu­ngen zum Improvisie­ren kamen offenbar nicht oder erst zu spät.

Und dann waren da noch die Verteidige­r.

„Ich denke, die Ukrainer waren gut darauf vorbereite­t“, sagt Reisner und meint damit den perfekt ausgeführt­en Jagdkampf der Verteidige­r auf die bitter nötigen Versorgung­slinien der Russen. „Das ist zu gut koordinier­t, um spontan zu sein. Sie sind im Vorfeld wohl sehr gut beraten worden.“

Was davon ist nun russische Blamage, was ist westliches Wunschdenk­en? Die Fehler der Russen sind atemberaub­end. Doch „im Krieg zählt die Masse“, zitiert die „New York Times“einen US-General. Und die Masse hat Russland. „Sie sind leidensfäh­ig und bereit, bis zum Äußersten zu gehen“, sagt Reisner. „Wir werden noch Überraschu­ngen erleben.“

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