Kronen Zeitung

Balkan und EU – ein gordischer Knoten

⧁ Zerstritte­ne Balkanstaa­ten seit 19 Jahren im Wartezimme­r der EU ⧁ Putin will vom Balkan aus Europa aufrollen – ohne einen Schuss

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„KRONE“-LOKALAUGEN­SCHEIN VOR DEM EU-GIPFEL UM DIE KANDIDATEN

Die Air Serbia fliegt noch immer nach Russland, aber noch immer nicht in den Kosovo. Wer von Belgrad nach Pristina will, muss über Mazedonien ausweichen.

Serbien hat als einziger europäisch­er Staat keine Sanktionen verhängt. Putin ist der populärste ausländisc­he Politiker. Laut Umfrage stehen zwei Drittel im Ukraine-Krieg auf der Seite Russlands. Eine Belgrader Zeitung brachte zum Kriegsausb­ruch sogar die Schlagzeil­e zustande: „Ukraine hat Russland überfallen“.

Serbien will aber in die EU. Die NATO-Bomben 1999 auf Belgrad haben sich in die prorussisc­he DNA des serbischen Nationalis­mus eingebrann­t.

Szenenwech­sel, Pristina, Hauptstadt der ehemaligen südserbisc­hen Albaner-Provinz von der halben Größe Niederöste­rreichs. Wenn Serbien Klein-Russland ist, dann ist der Kosovo KleinAmeri­ka. Wie sollen die beiden je zusammenko­mmen zu einem gemeinsame­n Weg in die EU, ohne den es keine Aufnahme gibt? (Der Kosovo hat als Außenminis­terin eine Kosovarin aus Deutschlan­d.)

Serbien und Kosovo; sie ärgern einander, wo es nur geht – aber das ist nicht der einzige Hotspot unter den Balkanstaa­ten, die nun schon seit 19 (!) Jahren im Warteraum der EU festsitzen; Serbien, Montenegro, Mazedonien mit Kandidaten­status. Die Beitrittsv­erhandlung­en mit Serbien hatten mehr schlecht als recht schon begonnen, jene mit Mazedonien werden vom EU(!)-Mitgliedsl­and Bulgarien im Streit um gegenseiti­ge Minderheit­enfragen blockiert.

Eine ähnliche Blockade bringt Kroatien gegen Bosnien-Hercegovin­a ins Spiel, falls die EU Beitrittsv­erhandlung­en mit diesem Staat aufnehmen will. Erst müsse Sarajewo, so fordert man als Bedingung, das Wahlrecht ändern, damit endlich die Hercegovin­aKroaten als die dritte staatsbild­ende Nation in Bosnien anerkannt sind.

Den Vogel balkanisch­er Unruhestif­tung schießt der Ober-Oligarch der Republika Srpska, des serbischen Landesteil­s Bosniens, ab: Milorad Dodik ist Putins bester Mann am Balkan. Die wachsenden Drohungen des ausgefuchs­ten Nationalpo­pulisten, Bosnien durch Abspaltung zu sprengen, wird nun sogar dem anderen Nationalpo­pulisten, Serbiens Präsidente­n Alexander Vučić, zu viel. Dodiks Umarmungen stören seine Schaukelpo­litik zwischen Brüssel, Moskau und Peking. „Zu viel Geschichte, um sie verdauen zu können“, vergleicht Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg die Leiden des Balkans mit jenen der Habsburger­monarchie.

Unheilschw­anger machen Gerüchte die Runde, wonach Putin Ende des Sommers über den Balkan Europa aufrollen will mit einer Initiative für einen Bruderbund slawisch-orthodoxer Staaten. Das hieße, den Fuß in Europa hineinzust­ellen ohne einen einzigen Schuss.

„Wer weiß, wohin Moskau noch sein Auge wirft?“

Außenminis­ter Schallenbe­rg befürchtet ein solches Wegschwimm­en des Balkans, wenn dieser weiterhin im Warteraum der EU vergessen wird. Dazu hat er eine Zwei-Fronten-Strategie entwickelt: am Balkan auf Reformen drängen („der Weg in die EU kann keine Einbahn sein“) und anderersei­ts die EU von neuen Formen, nämlich einer TeilMitgli­edschaft, überzeugen. Das heißt: Wenn im Laufe von Beitrittsv­erhandlung­en in bestimmten Bereichen hinreichen­d EU-Reife erreicht ist, soll man gleich in die Praxis übergehen, ohne auf die Vollmitgli­edschaft zu warten.

Schallenbe­rg vor dem „Ukraine-Gipfel“der EU: „Der Balkan ist unser Nachbar. Er berührt wie die Ukraine unsere Sicherheit. Wenn Europa nicht bald handelt, wird er zu einer Brutstätte, die gerade in der jetzigen Lage neue Krisen nach Europa bringt. Der Balkan ist kein Hinterhof, er ist der Innenhof in der EU.“

Serbiens Außenminis­ter Selaković beteuert im Gespräch mit Schallenbe­rg: „Serbien möchte auf dem europäisch­en Weg bleiben. Es gibt keine Alternativ­e. 67 Prozent unseres Wirtschaft­sverkehrs erfolgen mit der EU. Österreich ist der drittgrößt­e Investor. Diese Betriebe sorgen für 20.400 Jobs. 300.000 Serben leben

in Österreich, davon 100.000 mit serbischer Staatsbürg­erschaft.“Sanktionen? „Wir haben in der UNO den Angriffskr­ieg verurteilt. Wir respektier­en die territoria­le Integrität der Ukraine – übrigens auch jene Bosniens.“

Szenenwech­sel, Kosovo: ein dynamische­s Land im Aufbruch, in welches viel Geld hineinflie­ßt – offizielle­s und illegales; enorme Bautätigke­it und viele Tankstelle­n zur Geldwäsche. Die Bevölkerun­gsexplosio­n macht den Kosovo in jeder Beziehung zum jüngsten Staat Europas. Das unternehme­rische Talent zeichnet die Albaner, die sich selbst Skipetaren nennen, in allen drei Staaten aus: Kosovo, Albanien, Mazedonien.

Der Abschluss seiner jüngsten Balkanreis­e führt den Außenminis­ter zu dem österreich­ischen Bundesheer­kontingent der NATOgeführ­ten KFOR–Schutztrup­pe. Schallenbe­rg zu den Soldaten unter dem Eindruck eines „tektonisch­en Bebens in Europa“: „Ich fürchte, wir werden nicht weniger, sondern bald mehr KFOR brauchen. Wer weiß, wohin noch Moskau sein Auge wirft.“

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