Nackter Kaiser
Vor 25 Jahren hat mich die Reportage über einen neunjährigen Buben auf das Phänomen Autismus aufmerksam gemacht. Er sprach nicht, kommunizierte ausschließlich über Augenkontakt und lebte vollkommen in seiner Welt der Kreisel und Bausteine. Damals hätte ich nicht vermutet, dass die Zahl autistischer Kinder, egal, ob in Brennpunkt- oder Landschulen, von Jahr zu Jahr steigen würde.
Was ich mir ebenfalls nicht vorstellen konnte: Spezielle Förderungen für Schüler mit allen möglichen Lernschwierigkeiten wurden seither ständig gekürzt bis völlig gestrichen. Eigentlich im gleichen Ausmaß wie die Zahl der Schüler mit Förderbedarf stieg.
Je nach Bildungsideologie werden also diverse Allheilmethoden zur Lösung entwickelt. Die konservative, rechte Seite möchte eigene Sonderschulklassen, die sozialdemokratische, linke Seite Inklusion. Schüler mit Lernschwierigkeiten und Beeinträchtigungen dürften nicht mehr separiert werden.
Was aber erleben wir in der Praxis? Beide Modelle sind zum Scheitern verurteilt, da es massiv an Sonderpädagogen und Lehrpersonal mangelt. Diskussionen, auf welche Weise wir Schüler mit Förderbedarf unterrichten sollten, sind demnach reine Ablenkungsmanöver. Jede Seite versucht ihrem Kaiser die schönsten Kleider anzuziehen, obwohl dieser in Wahrheit nackt ist.
Geld wäre im System genug vorhanden. Die Frage ist, weshalb es nicht in unseren Schulen ankommt.