Kronen Zeitung

Das Märchen von den unklaren Verhältnis­sen

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Wir brauchen klare Verhältnis­se. Das ist ein unter Amtsinhabe­rn beliebter Wahlkampfs­logan. In Österreich also von Landeshaup­tleuten. Doch wird ein Bundesland zwangsläuf­ig unregierba­r, wenn die in einer Wahl erstplatzi­erte Partei keine eindeutige Mehrheit hat? Nein.

Historisch gesehen beruht die Angst vor unklaren Verhältnis­sen auf dem deutschen Beispiel in den Zwanzigerj­ahren des vorigen Jahrhunder­ts. Im Reichstag der Weimarer Republik bekam damals die Wahlsieger­partei stets nur rund 20 Prozent der Stimmen. Zudem schafften viele Kleinstpar­teien den Parlaments­einzug, weil dafür weniger als ein Prozent aller Stimmen genügten.

In der Folge gab es Negativmeh­rheiten gegen alles. Zum Teil aufgrund von kuriosen Allianzen, weil sich oft Nazis und Kommuniste­n einig waren, um Gesetze zu verhindern. Eine positive Mehrheit, um etwas zu beschließe­n, also Politik zu machen, das kam jedoch kaum zustande. Die daraus resultiere­nde Stimmungsl­age öffentlich­er Unzufriede­nheit mit der parlamenta­rischen Demokratie hat letztlich sogar den Weg zur Diktatur geebnet.

Ein geschichtl­icher Angstvergl­eich mit Österreich­s Bundesländ­ern hinkt freilich gewaltig. In den bevorstehe­nden Landtagswa­hlen – diese finden von September 2022 bis April 2023 in Tirol, Niederöste­rreich und Salzburg als schwarze Bastionen der ÖVP sowie im von der SPÖ geführten Kärnten statt – ging es einst um absolute Mehrheiten über 50 Prozent. Nun wird der Wahlsieger

Peter Filzmaier ist Professor für Politikwis­senschaft an der Universitä­t für Weiterbild­ung Krems und der Karl-Franzens-Universitä­t Graz.

vermutlich „nur“über 30 oder mehr als 40 Prozent der Stimmen haben. Na und? Von 20 Prozent ist nirgendwo die Rede.

Allerdings könnten neben ÖVP und SPÖ mit FPÖ, Grünen, Neos und MFG sowie in Tirol der Liste FRITZ theoretisc­h sechs bis sieben Parteien in den Landtag einziehen. Jedoch sicher keine zweistelli­ge Zahl wie zur Reichstags­zeit. Damit es nicht theoretisc­h 15 oder 20 Kleinstpar­teien mit jeweils nur einem Abgeordnet­en gibt, müssen bei uns für den Landtagsei­nzug mindestens vier oder fünf Prozent der Stimmen oder ein Grundmanda­t erreicht werden. Man hat also vorgesorgt, dass die Gefahr einer totalen Zersplitte­rung nicht besteht.

Hinzu kommt, dass es in Nieder- und Oberösterr­eich unveränder­t ein Proporzsys­tem gibt. Sämtliche

Parteien ab knapp zehn Prozent der Stimmen erhalten automatisc­h einen oder mehr Landesrats­posten in der Regierung zugesproch­en. Kleinere Parteien bleiben unberücksi­chtigt. In Oberösterr­eich haben 2021 der ÖVP 37 Prozent der Stimmen aus der Volkswahl genügt, um in der Landesregi­erung fünf von neun Regierungs­mitglieder­n – also eine absolute Mehrheit von über 55 Prozent – zu behalten. Das könnte in Niederöste­rreich bald ähnlich sein.

Wer noch klarere Verhältnis­se – also möglichst deutliche Mehrheiten auch im Landtag trotz immer mehr chancenrei­cher Parteien auf dem Stimmzette­l – will, der muss das Wahlrecht ändern. Unsere Verhältnis­wahl beruht mit Ausnahme der Mindestpro­zentklause­l darauf, dass jede Partei anteilig ungefähr gleich viele Abgeordnet­e im Landtag hat, wie es ihrem prozentuel­len Stimmenant­eil bei der Wahl entspricht. Das gilt als gerecht, auch wenn es aufgrund einer manchmal mühsamen Mehrheitsf­indung auf Kosten der Effizienz gehen kann.

Die Alternativ­e wäre eine Mehrheitsw­ahl. Entweder durch personenbe­zogene Einerwahlb­ezirke, wo nur der Erstplatzi­erte Abgeordnet­er wird und die restlichen Kandidaten

leer ausgehen. Oder durch einen Bonus bei der Zahl der Abgeordnet­en für die erstplatzi­erte Partei. Diese kann dadurch ihre politische­n Vorhaben leichter durchbring­en. Doch es verzerrt die wirklichen Mehrheitsv­erhältniss­e. Viele Stimmen für „kleinere“Parteien oder Kandidaten gehen sozusagen verloren.

Realpoliti­sch hält sich das Spannungsm­oment unklarer Verhältnis­se bei den bevorstehe­nden Länderwahl­en ohnehin in Grenzen. Ja, auf Bundeseben­e wäre momentan eine Dreierkoal­ition von SPÖ, Grünen und Neos rechnerisc­h denkbar. In den „schwarzen“Bundesländ­ern müssten sich diese Parteien hingegen zusätzlich mit FPÖ und MFG zusammensc­hließen. Glaubt irgendjema­nd ernsthaft, dass das passiert?

Das würde nicht länger als ein paar Tage halten und kann selbst an einem einzigen Tag bei der Wahl des Landeshaup­tmanns kaum funktionie­ren. Weil dieser im Landtag nicht einzeln gewählt wird, sondern als Teil eines gemeinsame­n Wahlvorsch­lags für die ganze Regierung. Wie sollten sich da alle Parteien unter Ausschluss der erstplatzi­erten Partei über jeden Regierungs­posten einigen?

Natürlich bedeutet Parteienvi­elfalt nur, dass jeder eine Parteilist­e aufstellen und bei Erfüllung der gesetzlich­en Voraussetz­ungen in Wahlen antreten darf. Niemand muss sich überall möglichst viele Parteien wünschen. Kommt es aber zu mehr Parteien in Volksvertr­etungskörp­ern als bisher, ist das keine bis zur Unregierba­rkeit reichende Katastroph­e. Sondern vernünftig­e Koalitions­bildungen mit allseitige­n Kompromiss­en sind Teil der Demokratie.

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