Dichterlesung
Herr T. berichtete: „Unlängst war i bei aner weihnachtlichen Dichterlesung. Außer mir und dem Dichter war niemand da. Der Dichter is auf an Podium hinter an klan Tischerl gsessen und hat in sein Buch glesn. I bin vor ihm in der ersten Reih gsessn und hab in der ,Kronen Zeitung‘ glesn.
Nach aner Weil hab i gfragt: ,Wann beginnt die Dichterlesung?‘
Sagt der Dichter: „I les eh.‘ Sag i: ,I hab glaubt, Sie werden laut lesen.‘
Sagt der Dichter: ,Da wart ma no a bisserl. Vielleicht kommt noch wer. Was steht denn heut im ,Heiteren Bezirksgericht‘?‘
I les drauf den Dichter des Bezirksgericht vor, sagt der Dichter: ,Lauter!‘
Drauf hab i laut vorglesn, der Dichter hat zuaghört, nach aner Weil hat er gsagt: ,Gebn S ma die Zeitung. Da habn S mei Büachl. Mir wartn no a bisserl. Vielleicht kommt noch wer.‘
So samma gsessen und habn glesn, der Dichter in der Zeitung und i in sein Buch, es is aber niemand mehr kumma.
Nach aner Weil hab i gsagt: ,Schenkn Sie mir des Buch?‘
,Ja‘, hat er gsagt. ,Schenkn Sie mir die Zeitung?‘
,Gern‘, hab i gsagt. ,Signieren Sie mir das Buch?‘
,Freilich‘, hat er gsagt. ,Borgn S mir an Kugelschreiber.‘
I gib eahm mein Kugelschreiber, i hab glaubt, er wird das Buch signieren, er hat aber in der Zeitung Sudoku gspült. Dann is er aufgstandn und is hinter an Vorhang verschwunden.
I hab gwart und hab in sein Buch glesn, i hab glaubt, er sitzt am Häusl und wird in der Zeitung lesen. Er is aber scho furtganga, weil niemand mehr kumma is. Und des mit mein sündteuren Kugelschreiber, Herr Rat!“
Der Dichter, derzeit im Ausland, hatte den vergoldeten Montblanc-Kugelschreiber direkt an das Gericht übermitteln lassen. Dem Päckchen lag ein Entschuldigungsschreiben bei, das der Bezirksrichter laut vorlas. Der Geschädigte saß in der ersten Reihe und hörte andächtig zu. „Danke!“, sagte er dann gerührt. „Endlich, dass ma amal wer was vurlest.“
In der Folge entfernte er sich glückselig mit seinem vergoldeten Kugelschreiber.