Verlierer des Jahres 2022
⧁ Die berühmte Jahresende-Pressekonferenz: abgesagt. Der Neujahrsempfang: abgesagt. ⧁ Putin hat der Öffentlichkeit nichts mehr zu sagen. Er lächelt lieber Misserfolge hinweg.
Putin hat völlig recht: Eine solche Jahresbilanz kann man nicht vorzeigen, kann man keiner breiten Öffentlichkeit zumuten. Daher: erstmals keine jener pompösen Jahresabschluss-Pressekonferenzen, auf welchen der Welt früher Russlands glanzvolle Erfolge vor Augen geführt wurden.
Auch kein prunkvoller Neujahrsempfang im Kreml (obwohl noch ausreichend Krimsekt da ist). Auf welche Erfolge im abgelaufenen Jahr sollte man auch anstoßen?
Der Drei-Tage-Blitzkrieg gegen Kiew blutig gescheitert.
Die Schlacht um Charkiw verloren.
Cherson erst besetzt, dann geräumt. Dazwischen gab es ein „Referendum“, bei welchem sich „90 Prozent“für den Anschluss an Russland aussprachen . . .
Das Schwarzmeer-Flaggschiff „Moskwa“durch eine Ukraine-Rakete versenkt.
Die Brücke von Russland auf die Krim, Putins ganzer Stolz, durch eine Explosion schwer beschädigt.
Das sind alles keine Bilanzen, die man herzeigen kann. Begreift der KremlChef überhaupt den Ernst der Lage?
Trotz schwerer Niederlagen in der Ukraine und Gegenschlägen mit Drohnen auf russische Militärbasen zeigt sich Putin unbeirrt kriegslüstern. Einmal mehr vergleicht er sich mit einem Zaren und unterstreicht vermeintliche Erfolge.
In seinem Krieg gegen die Ukraine schwor der Kremlchef jüngst die Russen deutlich auf einen womöglich „langen Prozess“ein. Fast täglich muss der 70-Jährige hinnehmen, dass Gegenschläge von ukrainischer Seite mit Drohnen oder anderen Waffen nun die in Russland für das Militär und die Energieversorgung wichtige Infrastruktur treffen. Die Bilder von Bränden und Rauchwolken, die etwa auch am Donnerstag wieder in Belgorod in Grenznähe zur Ukraine zu sehen waren, gelten als verheerend für das vom Kreml gezeichnete Bild der Unverletzlichkeit Russlands.
Militärexperten betonen, dass Russland nach seinen Angriffen auf die Energieinfrastruktur der Ukraine offenbar kein Monopol mehr habe auf solche Zerstörungen. Auch die Ukraine schaffe das nun – und binde damit zudem Angriffspotenzial in Russland, heißt es. Nicht nur in den an die Ukraine grenzenden russischen Regionen Kursk, Brjansk und Belgorod oder auf der von Moskau annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim gibt es immer wieder Explosionen und Einschläge. Die Angriffe reichen inzwischen Hunderte Kilometer weit in russisches Gebiet.
Unlängst waren zwei russische Militärflugplätze von Drohnen angegriffen worden – in der Stadt Engels im südrussischen Gebiet Saratow und im zentralrussischen Rjasan nahe Moskau. In Saratow sind strategische Bomber stationiert, die in der Vergangenheit bei den Raketenangriffen auf die Ukraine eingesetzt wurden. Das Signal aus Kiew: Nichts in Russland soll mehr sicher sein.
Der Angriff tief im russischen Hinterland kommt dabei nicht völlig überraschend. Bereits 2020 war der Prototyp einer Kampfdrohne mit dem Namen Sokil300 (Deutsch: Falke-300) vom Kiewer Entwicklungsbüro Lutsch präsentiert worden. Im Oktober hatte der staatliche Rüstungskonzern Ukroboronprom die baldige Produktion von Kampfdrohnen mit einer Reichweite von 1000 Kilometern und einer Nutzlast von 75 Kilogramm angekündigt.
Ukraine-Kampfdrohnen bald bis Moskau?
„Ich hoffe sehr, dass wir noch vor dem neuen Jahr den Gegner sehr überraschen können“, sagte Ukroboronprom-Manager Oleh Boldyrjew damals im Einheits-Nachrichtenprogramm des ukrainischen Fernsehens. „Wir haben keinen Vorteil bei der Artillerie, und wie ich fürchte, werden wir nie einen haben“, meinte der Rüstungsexperte. Daher die Konzentration auf bewaffnete Drohnen mit großer Reichweite. Damit wäre auch die etwa 600 Kilometer entfernte Hauptstadt Moskau erreichbar.
Seit Langem schon for
dert die Ukraine von den USA und anderen NATOStaaten Angriffswaffen mit größerer Reichweite, um russische Truppen zurückzudrängen. Der Westen zögert, auch weil er verhindern will, dass der Krieg durch Attacken gegen Russland weiter eskaliert.
1987 landete Mathias Rust mitten auf dem Roten Platz
Zwar warnt nicht zuletzt Moskau immer wieder vor einer solchen neuen Dimension in dem Krieg. Aber klar ist auch, dass Russland den ukrainischen Angriffen bisher in der Luftabwehr kaum etwas entgegenzusetzen weiß.
Mit der Luftraumüberwachung und der Flugabwehr der stolzen Atommacht Russland scheint es nicht zum Besten zu stehen, denn am 28. Mai 1987 mitten im Kalten Krieg flog der deutsche Privatpilot Mathias Rust mit seiner Cessna unbehelligt von Hamburg nach Moskau und landete dort auf dem Roten Platz. Die Kreml-Strategen haben daraus offenbar bis heute nichts gelernt.
Putin hat bisher immer noch nicht das Millionenheer von der Armee über die Nationalgarde bis hin zu den Kampftruppen des Innenministeriums in Bewegung gesetzt. Vielmehr betonte er gerade nochmals, dass es keine weitere Mobilmachung von Reservisten geben soll. Allerdings setzt Putin auf seinen engen Vertrauten, den Geschäftsmann Jewgenij Prigoschin, der mit seiner paramilitärischen Truppe „Wagner“Freiwillige und Strafgefangene in der Ukraine kämpfen lässt.
Und Putin zog einmal mehr Parallelen zwischen sich und Zar Peter dem Großen, der noch um den Zugang zum Asowschen Meer gekämpft habe. Putin meinte nun stolz, dass es unter ihm zu einem russischen Binnenmeer geworden sei.
Kremlkritiker kommentierten, dass Putin damit mehr als deutlich gemacht habe, dass es ihm bei seinem Krieg um Landraub und die Wiederherstellung eines Imperiums gehe. Sie veröffentlichten Videoclips in sozialen Netzwerken von Putins Aussagen, der noch zu Kriegsbeginn gesagt hatte, dass Russland keine ukrainischen Gebiete besetzen werde. Eine von vielen Lügen, wie weithin betont wurde.
Doch unter Russlands Kreml-nahen Militärbloggern und den Ultranationalisten kommen Putins gewaltsame Annexionen gut an. Sie sehen – wie westliche Experten auch – den Winter vor allem als Gelegenheit für Russland, sich neu aufzustellen, Raketen und Munition zu produzieren. Demnach könnte es im Frühjahr zu einer neuen Großoffensive kommen.