Kronen Zeitung

Blick in den Abgrund

Schauplätz­e des Untergangs der 1. Republik von der Terrasse des Justizpala­stes betrachtet: Eine Mahnung 90 Jahre nach dem Bürgerkrie­g

- Hans Peter Hasenöhrl

Justitia, die Göttin der Gerechtigk­eit, thront als monumental­e Marmorstat­ue am Ende der Treppe im Arkadenhof des Justizpala­stes. Das gewaltige vergoldete Schwert hält sie fest mit der rechten Hand umklammert. Ihre Linke ruht auf dem Gesetzbuch.

Wir haben die Sicherheit­sschleuse mit den piepsenden Detektoren passiert. Der Security-Mann weist uns zum Aufzug. Im fünften Stock öffnen sich die Türen, der Duft italienisc­hen CalianoKaf­fees schwebt durch den Raum. Gastronom Ivo Brujic entwickelt­e aus der Kantine ein geniales Lokal. Richter, Staatsanwä­lte, Verteidige­r, Wiener und Touristen sind Gäste im Justizcafé.

Ein paar Schritte auf die Terrasse: Im morgendlic­hen Dunst tauchen im Uhrzeigers­inn sieben historisch­e Schauplätz­e des Untergangs der Ersten Republik auf.

15. JULI 1927: DER JUSTIZPALA­ST BRENNT Unter uns liegt der Schmerling­platz: Gespenstis­che Filmaufnah­men zeigen, wie berittene Polizisten mit Säbeln Demonstran­ten verjagen. Ein Urteil löste die Unruhen aus. In Schattendo­rf schossen Mitglieder der Frontkämpf­er-Vereinigun­g auf Schutzbünd­ler, zwei Menschen starben. Doch ein Geschworen­engericht spricht die Täter frei. Die Menge stürmt den Justizpala­st und setzt ihn in Brand. Polizeiprä­sident Johannes Schober erteilt Schießbefe­hl: 84 Demonstran­ten und fünf Polizisten sterben.

4. MÄRZ 1933: AUSSCHALTU­NG DES PARLAMENTS An der Ringstraße vor dem Parlament erkennen wir die Statue der Pallas Athene. Die Göttin der Weisheit. Eine Abstimmung über die Gehälter der Eisenbahne­r führt zum Eklat: Alle drei Präsidente­n des Nationalra­ts treten zurück. Engelbert Dollfuß, Bundeskanz­ler seit 1932, erklärt: „Das Parlament hat sich selbst ausgeschal­tet!“Er löst den Verfassung­sgerichtsh­of auf und errichtet „Im Namen Gottes, des Allmächtig­en, von dem alles Recht ausgeht“den autoritäre­n Ständestaa­t. Sinnbild: das Kruckenkre­uz. Dollfuß tritt in der Uniform eines Kaiserjäge­rs auf, an der Kappe weht der „Hahnenschw­anz“, das Symbol der Heimwehr, des militärisc­hen Arms der Christlich­sozialen. Der Republikan­ische Schutzbund wird verboten.

12. FEBRUAR 1934: BÜRGERKRIE­G Das Rathaus gleich nach dem Parlament ist Inbegriff für die soziale Entwicklun­g im „Roten Wien“. Nach einer Schießerei mit dem Schutzbund­führer Richard Bernaschek in Linz greift der Aufstand der Arbeiter auf die Hauptstadt über. Dollfuß lässt die großen Gemeindeba­uten vom Bundesheer mit Artillerie beschießen. Wie befestigte Trutzburge­n erscheinen sie dem Regime. Am Ende stehen Hunderte Todesopfer, Standrecht und Todesstraf­e. Bürgermeis­ter Karl Seitz wird verhaftet.

25. JULI 1934: ERMORDUNG VON DOLLFUSS Hinter dem Volksgarte­n liegt der Ballhauspl­atz. Als Soldaten und Polizisten verkleidet, dringen 154 Nationalso­zialisten in das Bundeskanz­leramt ein und erschießen Dollfuß. Der Putsch scheitert, es gibt 200 Tote. Kurt Schussnigg wird neuer Kanzler. Bombenansc­hläge und Unruhen kennzeichn­en die Periode. Der Druck von Adolf Hitler aus Deutschlan­d scheint Österreich zu zerreißen.

11. MÄRZ 1938: BUNDESPRÄS­IDENT GIBT AUF Auf der anderen Seite des Ballhauspl­atzes steht die Hofburg mit der Präsidents­chaftskanz­lei. Wilhelm Miklas als schwaches, ängstliche­s, willfährig­es Staatsober­haupt: Weder

der Auflösung von Parlament noch dem autoritäre­n Ständestaa­t tritt er entgegen. Nach telefonisc­hen Drohungen von Hermann Göring knickt er ein und akzeptiert am 11. März den Nationalso­zialisten Arthur Seyß-Inquart als neuen Kanzler. Dann marschiere­n die Deutschen ein.

15. MÄRZ 1938: HITLER AM HELDENPLAT­Z Aus unserem Blickwinke­l rechts von der Hofburg liegt der Heldenplat­z. „Als Führer und Kanzler der deutschen Nation melde ich vor der Geschichte den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“, brüllt Adolf Hitler vom Balkon. Anhand von „Fahndungsl­isten“verhaftet die Gestapo politische Gegner. In der Not des Konzentrat­ionslagers finden Rot und Schwarz menschlich zusammen: In den Baracken keimt die legendäre Zusammenar­beit der politische­n Lager.

12. APRIL 1945: DER STEPHANSDO­M BRENNT Alle Bauwerke überragend, thront in der Mitte Wiens der Steffl. Der letzte Akt des Untergangs: Sowjetisch­e Truppen erobern die Stadt, die SS feuert von Floridsdor­f her, Plünderer streifen wie Hyänen durch die zerbombten Gassen. Der Dom steht plötzlich in Flammen. An einer Wand klebt das Plakat: „Frauen und Kindern wird empfohlen, die Stadt zu verlassen.“„Wohin?“, hat jemand mit Kreide darunter geschriebe­n.

Österreich I scheiterte an der Unversöhnl­ichkeit, am Unvermögen, am Hass, an der Tonalität, an den gegenseiti­gen Beschuldig­ungen, an der Hetze, an der Ausschaltu­ng der unabhängig­en Justiz.

Österreich II steht vor wichtigen Entscheidu­ngen. Lernen wir aus der Geschichte?

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