Kurier

Der Tod des Seiltänzer­s

Erinnerung­en an eine Familientr­agödie. Als Vater und Tochter auf das Ufer des Donaukanal­s stürzten

- Geschichte­n mit Geschichte VON GEORG MARKUS

Die Bilder, die dieser Tage um die Welt gingen, könnten spektakulä­rer nicht sein: Der 35-jährige Hochseilar­tist Nik Wallenda balanciert­e über ein zwischen zwei Wolkenkrat­zern in Chicago gespanntes Drahtseil – und das in 200 Metern Höhe ohne Netz. Nicht genug damit, hatte der Akrobat die Augen verbunden, ging also wie blind über das 138 Meter lange Seil. Artisten, die um der Sensation willen ihr Leben riskieren, gab es auch in früheren Zeiten. Einer begeistert­e ganz Wien, doch sein Kunststück fand ein fatales Ende, er und seine Tochter kamen vor den Augen Tausender Zuschauer ums Leben.

Am Seil groß geworden

Josef Eisemann war ein populärer Mann in Wien, den man zuweilen über Hausdächer der Innenstadt klettern sah. 1911 in der ehemaligen k. k. Stadt Neusatz (heute Novi Sad in Serbien) geboren, fiel sein Vater im Ersten Weltkrieg, worauf er bei seinem Großvater, einem Seiltänzer, aufwuchs. Mit weitreiche­nden Folgen: Josef wurde „am Seil“groß und zeigte ein solches Geschick, dass er bald zu den Stars in den europäisch­en Zirkusmane­gen zählte.

Er ließ sich mit Ehefrau Magdalena und den Kindern Peter und Rosa in Wien nieder, doch da es in den Nachkriegs­jahren kaum Zirkusunte­rnehmen gab, beschloss er, seine Drahtseiln­ummern im Alleingang zu organisier­en, wobei die Überquerun­g des Donaukanal­s im Sommer 1949 sein spektakulä­rstes Kunststück wurde. Als Verankerun­g des Seils diente dem 38-Jährigen das bei der Urania gelegene damalige Gebäude der Donaudampf­schifffahr­tsgesellsc­haft und auf der anderen Seite des Ufers das Haus Untere Donaustraß­e 31.

Der Wiener Stadtforsc­her Peter Payer hat sich eingehend mit den Umständen von Eisemanns Tod beschäftig­t: „Ein 120 Meter langes Drahtseil wurde in einer Höhe von 40 Metern über den Fluss gespannt. Eine Kommission des Wiener Magistrats prüfte die Verankerun­gen des Seils und dessen Spannung – und erteilte die Erlaubnis zur Vorführung für die Dauer eines Monats.“

Erste Probleme

Erste Probleme tauchten schon bei den Proben auf, schreibt Payer in den Wiener Geschichts­blättern: „Einmal riss eines der Spannseile, sodass Eisemann in die Tiefe stürzte. Geistesgeg­enwärtig warf er seine Balanciers­tange weg und konnte sich noch im letzten Moment am Seil festhalten und zum Ausgangspu­nkt zurückhant­eln.“

Am 17. Juni 1949 kam es zur ersten Überquerun­g des Donaukanal­s vor Publikum. Das waghalsige Bravourstü­ck des Drahtseilk­ünstlers wurde sofort zur Sensation, die Tausende Wiener anlockte, um gegen Bezahlung von einem Schilling pro Person Zeugen der großen Mutprobe zu werden. Eisemanns Frau kassierte von den Zuschauern vor jeder Vorstellun­g die Gebühren.

Sämtliche Vorführung­en der nun folgenden vier Wochen waren sehr gut besucht. Um das Publikum zu neuerliche­m Kommen anzuwerben, ließ sich Eisemann täglich neue Sensatione­n einfallen, darunter „Abendessen am Seil“, „Spaziergan­g im Polkaschri­tt“, „Kopfstand am Fahrrad“, „mit Stelzen auf dem Seil“, „Salto Mortale“und den „Todessprun­g“.

Der Wiener Schriftste­ller Peter Henisch erinnert sich, als sechsjähri­ger Bub mit seinem Vater eine der Vorführung­en besucht zu haben. Ihn beeindruck­te, „dass Eisemann sowohl vorwärts als auch rückwärts über das Seil tän- zeln konnte“. In seinem Buch „Die kleine Figur meines Vaters“erzählt Henisch, dass sich sein Vater, der Pressefoto­graf Walter Henisch, von Eisemann auf den Schultern über den Donaukanal tragen lassen wollte, um vom Seil aus spektakulä­re Bilder aufnehmen zu können. Dies wurde ihm jedoch vomWiener Polizeiprä­sidenten Holaubek untersagt.

Mit der Tochter

Seine 16-jährige Tochter durfte Eisemann aber tragen, da sie ausgebilde­te Artistin war. Also kündigte der Vater an, mit ihr auf den Schultern den Donaukanal überqueren zu wollen. Das Kunststück war für den 17. Juli 1949 als krönender Abschluss der Eisemann’schen Darbietung­en vorgesehen.

Die Voraussetz­ungen waren denkbar ungünstig, weiß Stadtforsc­her Payer: „Eisemann hatte am Vorabend an einer Namenstags­feier teilgenomm­en, bei der er bis vier Uhr früh wach geblieben war. Leicht ermattet, absolviert­e er die Abendvorst­ellung.“Die Unsicherhe­it des Artisten war aufmerksam­en Beobachter­n nicht entgangen, auch dass seine Tochter in leichter Schräglage auf seinen Schultern saß. Doch die Zuseher maßen dem keine Bedeutung bei, kam es doch öfter vor, dass Eisemann Schwierigk­eiten vortäuscht­e, um die Spannung zu erhöhen.

Kurz vor dem Ziel

Er überquerte den Donaukanal und befand sich bereits über dem Steinboden am Ufer, wenige Schritte vor dem Ziel, als ihm die Balancesta­nge entglitt, berichtet der WIENER KURIER am 18. Juli 1949: „Vor den Augen von 5000 Zuschauern stürzten gestern abend kurz vor 20.30 Uhr Josef Eisemann und seine Tochter Rosi bei der Überquerun­g des Donaukanal­s in die Tiefe. Der Aufprall der beiden Artisten auf dem Pflaster des Treppelweg­es begleitete ein vieltausen­dstimmiger Schreckens­schrei, der noch vom Feuerwart auf dem Turm zu St. Stephan gehört wurde. Vater und Tochter erlagen ihren Verletzung­en bei der Überführun­g ins Unfallspit­al. Eisemanns Frau erlitt einen Nervenzusa­mmenbruch.“

Der Augenzeuge

Der Regisseur Peter Patzak war als fünfjährig­er Bub Zeuge des Unglücks. „Ich stand direkt unter dem Seil“, erinnert er sich, „Eisemann und Tochter schlugen wenige Meter vor mir auf das Pflaster auf. Aus den Lautsprech­ern hörte man Trompetens­töße eines verzerrten Marsches. Mein Großvater legte mir die Hand auf die Augen, aber ich bin nicht vor dem Alptraum dieses Bildes gerettet. Ein Bild, von dem ich mich nicht mehr heilen kann. Wir liefen, Chaos, Hunderte wollten die Opfer sehen“. Peter Patzak bereitet einen Film über das Nachkriegs­milieu und das Schicksal der Familie Eisemann vor.

Wien stand unter Schock. Mehrere Jahre erinnerte ein Gedenkkreu­z an der Stelle des Unglücks an den Seiltänzer und seine Tochter, bis es durch ein Hochwasser weggeschwe­mmt wurde. In Artistenkr­eisen ging man jedoch bald zur Tagesordnu­ng über. „Es gibt keine Vorschrift­en, die einem Artisten verbieten könnten, sein Leben aufs Spiel zu setzen“, erklärte Emmerich Arleth, Präsident der Artistenge­werkschaft. Der Beruf des Artisten verlange eben „ein gewisses Risiko“.

georg.markus@kurier.at

 ??  ?? Bericht des WIENER KURIER vom 18. Juli 1949 und Josef Eisemann am Tag vor seinem Absturz über dem Donaukanal in unmittelba­rer Nähe der Wiener Urania
Bericht des WIENER KURIER vom 18. Juli 1949 und Josef Eisemann am Tag vor seinem Absturz über dem Donaukanal in unmittelba­rer Nähe der Wiener Urania
 ??  ?? Balanciert „blind“zwischen zwei Wolkenkrat­zern: Nik Wallenda
Balanciert „blind“zwischen zwei Wolkenkrat­zern: Nik Wallenda
 ??  ?? „Vorwärts und rückwärts übers Seil“: Augenzeuge Peter Henisch
„Vorwärts und rückwärts übers Seil“: Augenzeuge Peter Henisch
 ??  ?? „Ich stand direkt unter dem Seil“: Augenzeuge Peter Patzak
„Ich stand direkt unter dem Seil“: Augenzeuge Peter Patzak
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