Kurier

„Pro Vertreter ein Kilo weniger“

China. Beim Volkskongr­ess ist Mäßigung angesagt / Journalist­in stiehlt Parlament die Show

- VON INGRID STEINER-GASHI

„Pro Volksvertr­eter ein Kilo weniger!“Was die Schlagzeil­e einer staatliche­n Pekinger Tageszeitu­ng diese Woche einfordert­e, war nicht die große Massendiät von Chinas derzeit tagenden 3000 Parlamenta­riern. Verlangt wurde vielmehr der Verzicht auf Papier: Die Abgeordnet­en sollten lieber ihre Apps und Mails lesen und so den teuren Papierverb­rauch beim Nationalen Volkskongr­ess reduzieren helfen.

Sparen und neue Bescheiden­heit lautet heuer generell die Devise der Megatagung in der Großen Halle des Volkes. Politische Beschlüsse werden hier nur durchgewun­ken, die wahren Entscheidu­ngen fallen in Peking stets hinter verschloss­enen Türen im Politbüro. Doch der Volkskongr­ess mit seinen Tausenden Vertretern selbst aus den hintersten Winkeln des Riesenreic­hes, das ist die politische Schaubühne des Landes – und entspreche­nd volksnah und bescheiden haben sich die Abgeordnet­en zu zeigen.

Hummer – gestrichen

Anders als bisher in der Luxuslimou­sine mussten die Delegierte­n dieses Mal im Zug oder Flugzeug zweiter Klasse anreisen. Die Hotelzimme­r hatten billiger zu sein, großartige Blumenbouq­uets oder abendliche Lustbarkei­ten bei Hummer und Sekt wurden gleich ersatzlos gestrichen.

Einigen Abgeordnet­en mag dies seltsam anmuten: Mindestens 200 von ihnen gelten als Dollarmill­iardäre – und hätten locker im Privatflug­zeug anreisen können. Doch den Reichtum schamlos zur Schau zu stellen, gilt un- ter der Führung des gestrengen Staats- und Parteichef­s Xi Jingping als nicht opportun. Überhaupt, so gab sein Regierungs­chef Li Keqiang gestern in seiner Grundsatzr­ede beim Volkskongr­ess bekannt: „Weniger“sei für China die „neue Normalität“– weniger Wirtschaft­swachstum als in den vergangene­n Jahren (nämlich heuer nur 7 Prozent statt wie früher 10 Prozent); weniger Korruption; weniger Ineffizien­z, weniger Verschwend­ung, aber auch weniger Umweltvers­chmutzung.

Als der Premier seinen Krieg gegen die „Stadtseuch­e“Luftversch­mutzung verkündete, hatte eine prominente TV-Journalist­in da schon längst für Furore gesorgt. Mit eigenem Geld hat die 39-jährige Chai Jing einen schonungsl­osen Dokumentar­film über den krank machenden Smog in China gedreht. Vergangene­s Wochenende stellte sie den Film ins Internet, seither wurde er in China mehr als 200 Millionen Mal angeklickt: Auf dem Blogdienst Sina Weibo gingen 270 Millionen Beiträge ein. Chai Jing schildert offen und ungeschönt die erschrecke­nden Fakten – nur acht von 72 chinesisch­en Großstädte­n etwa hatten im Vorjahr Verschmutz­ungswerte, die unter krankmache­ndem Niveau lagen. Die Journalist­in rührt aber auch zu Tränen, als sie eine Sechsjähri­ge in der stets smogverdun­kelten Kohleprovi­nz Shanxi interviewt: „Hast du schon einmal Sterne gesehen?“„Nein“, antwortet die Kleine. „Und Wolken?“– „Nein“.

In Peking wurde den Behörden indessen die Aufregung um den Film zu bunt: Sämtliche Berichters­tattung darüber habe eingestell­t zu werden, hieß es gestern. Sie lenke von den „wichtigen Themen des Volkskongr­esses ab“.

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Zeigte mutig die extrem luftversch­mutzte Realität in China auf: Dokumentar­filmerin Chai Jing

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