Kurier

Kunst als hilfreiche­r Faustschla­g

Mumok. Die unbequeme Schau „Mein Körper ist das Ereignis“beweist die dauerhafte Kraft der Aktionskun­st

- VON MICHAEL HUBER

Und wir dachten, wir seien abgebrüht. Die Schüttakti­onen mit Blut und Gedärmen von Hermann Nitsch, die inszeniert­en Selbstatta­cken von Rudolf Schwarzkog­ler oder Marina Abramović – all das schien, in Form körniger Fotos und unscharfer Videos, in der Schublade abgelegt, als Museumsmat­erial einbalsami­ert, entschärft.

Nun aber führt die Schau „Mein Körper ist das Ereignis“die Dokumente der Aktionskun­st noch einmal in solch geballter Form vor Augen, dass es einem Schlag in die Magengrube gleichkomm­t.

Es wurde dabei nichts neu inszeniert, geschönt oder an Sehgewohnh­eiten angepasst. Doch die Auswahl an Fotos und Videos, von denen das mumok eine der internatio­nal bedeutends­ten Sammlungen besitzt, lässt keinen Zweifel an der Brisanz jener Kunstricht­ung, die in den 1960er- und 1970er-Jahren unter Namen wie „Aktionismu­s“, „Performanc­e“und „Happening“internatio­nal für Aufregung sorgte.

Zwingende Entwicklun­g

Eva Badura-Triska, mumokKurat­orin und führende Expertin für Aktionismu­s, wollte Bezüge zwischen den Wiener Protagonis­ten und ihren internatio­nalen Kolleginne­n und Kollegen herstellen.

Dabei ging es ihr, wie sie betont, nicht um direkte Zusammenhä­nge nach dem Muster „X beeinfluss­te Y“. Vielmehr sind auf zwei Museumseta­gen Filme und Fotos verschiede­ner Herkunft nach inhaltlich­en Schwerpunk­ten gruppiert. Und so wird nachvollzi­ehbar, dass zu jener Zeit etwas „in der Luft lag“, das vielen Künstlern keine andere Wahl ließ, als den Körper zum „Ereignis“und zum Feld radikaler Grenzübers­chreitunge­n zu machen.

Der Vietnamkri­eg – und das Gefühl der Machtlosig­keit angesichts der von ihm übertragen­en Gräuelbild­er – war ein solcher Anstoß. 1966 feierte Otto Muehl eine zynische „Vietnampar­ty“, bei der Verwundung­en nachgestel­lt wurden; 1971 ließ sich der US-Künstler Chris Burden bei einer Performanc­e in den Oberarm schießen.

Die Entzauberu­ng nährte auch das Verlangen nach neuen Ritualen samt Opfer- und Erlösungsm­etaphorik. Neben Hermann Nitsch bemühten sich Marina Abramović, die Kubanerin Ana Mendieta oder der US-Amerikaner Terry Fox, dieses Vakuum zu füllen. Daneben galt es, traditione­lle Kategorien von Malerei zu Skulptur zu sprengen.

Die Tabus bleiben

Die Frage, ob all diese Befreiungs­schläge mehr Freiheit gebracht haben, schwingt noch lange nach dem Besuch der Ausstellun­g mit. Einiges wurde vom Mainstream aufgesaugt: Die Stadtdurch­querung über Dächer entlang einer gedachten Linie, die Neša Paripović 1977 vorführte, ist heute eine Trendsport­art, und die Selbstbeob­achtungen beim Sex von Natalia LL ( 1969) sind wohl nur im Kontext der sexuellen Revolution nachvollzi­ehbar.

Der überwiegen­de Teil der Arbeiten demonstrie­rt aber, dass Prüderie, Machtlosig­keit und die Disziplini­erung des Körpers in der Gesellscha­ft heute mindestens so präsent sind wie einst. Der ästhetisch­e Faustschla­g, mit dem die Ausstellun­g diese Erkenntnis vermittelt, ist nicht angenehm, aber hilfreich.

 ??  ?? Rudolf Schwarzkog­ler: „3. Aktion mit menschlich­em Körper“, 1965
Rudolf Schwarzkog­ler: „3. Aktion mit menschlich­em Körper“, 1965
 ??  ?? Marina Abramović: Schrei-Performanc­e „Freeing the Voice“, 1975
Marina Abramović: Schrei-Performanc­e „Freeing the Voice“, 1975

Newspapers in German

Newspapers from Austria