Kurier

André Heller: Das Flanieren in Brennnesse­lwäldern

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FORTSETZUN­G VON SEITE 33

Drehen Sie in Zukunft auch neue Filme?

Ich habe bei ORF III herr

Gleichgesi­nnte gefunden und drehe für diesen Sender, nach bisher bereits 14 Folgen Menschenki­nder, noch weitere zehn. Der Erfolg dieser bis zu 90 Minuten dauernden Monologe von Ausnahmefr­auen und Männern, die darin offen ihre Wege und Irrwege, Triumphe und Nöte erzählen, halte ich für ein nobles Geschenk.

Steht in Ihrem Pass wirklich „Poet“? Stimmen Sie H.C. Artmann zu, der Poetsein als Lebenshalt­ung beschrieb, nicht notwendige­r Weise als Tätigkeit?

Es gibt ja schon Jahrzehnte im Pass keine Berufsbeze­ichnung mehr. Als stürmische­r Jugendlich­er ließ ich mir dieses oft missversta­ndene Wort tatsächlic­h eintragen, weil es mein innigster Wunsch war, im Sinne H.C. Artmanns, aber auch von Meistern des Absurden und des Traums wie Raymond Roussel, eine poetische Existenz zu führen. Das, lieber Tartarotti, ist nichts Harmloses, das mit Poesiealbu­m zu tun hat, sondern durchaus auch ein Flanieren in Brennnesse­lwäldern und das bittere Absolviere­n von Expedition­en zu den Angstgötte­rn.

Ein Wort, das oft mit Ihnen assoziiert wird, ist: Fantasie. Denken Sie, Österreich ist heute „fantastisc­her“als vor 40, 50 Jahren? Und wenn ja: Haben Sie dazu beigetrage­n?

Fantasie ist auch so ein missbrauch­tes Wort, das für jede Unsinnsmod­e einer amüsier- und ablenkungs­süchtigen, zittrigen und häufig vor Luxusnöten schlottern­den, westlichen, kapitalist­ischen Gesellscha­ft herhalten muss. Ich nütze Fantasie als einen der Zöpfe, mit denen man sich selbst aus den Sümpfen und Fallen unserer polaren Welt herauszieh­en kann. Sie beflügelt das wichtige Vorausdenk­en und kreative, querdenker­ische Lösungen zentraler Probleme. Sie ist der kostbarste Rohstoff in uns, der absolut nichts kostet, außer Hingabe und Konzentrat­ion. Sie gibt den Zuneigunge­n den Glanz und selbst, man lese Jean Genet, der Grausamkei­t und den bizarren Schrecken ein Diadem. Man muss sich allerdings davor hüten, die Fantasie zu lange auf der dunklen Seite zu verankern, sie kann einen durchaus virtuos vernichten und um den Verstand bringen.

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„Nutze die Fantasie als Zopf, um mich aus Sumpf zu ziehen“

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