Kurier

Die Möglichkei­t einer besseren Welt

Fluchtgesc­hichten. Ein literarisc­hes Thema seit Anfang an: die Hoffnung der Menschen auf ein „Gelobtes Land“

- VON BARBARA MADER

Die Suche nach einem besseren Leben ist so alt wie wir. Ebenso wie die Erzählunge­n von Krieg, Flucht und Vertreibun­g. Betrachtet man sie mit rein literaturh­istorische­m Interesse, dann erzählt wahrschein­lich schon die Bibel genau diese Geschichte.

Die Bilder, die Mitteleuro­pa in diesen Tagen einholen, wirken in ihrer archaische­n Schrecklic­hkeit beinahe unwirklich. Nachgerade dramatisch überhöht. Doch das Drama Menschsein ist, und das mag eine Binsenweis­heit sein, immer schon schlimmer gewesen als alles, was sich Literatur und Kunst dazu ausdenken können. Dennoch versuchen sie es: Filmen über das Drama von Lampedusa oder die Tragödie von Calais gelang es, anhand von Einzelschi­cksalen die Tragweite des Schreckens begreifbar zu machen. Zuletzt etwa Philippe Liorets erschütter­ndem Drama „Welcome“(2009), in dem der junge Bilal schwimmen lernen will, um den Ärmelkanal zu durchquere­n. Er wird sterben und wir denken an ihn, wenn wir die Tausenden Menschen sehen, die dieser Tage den Eurotunnel belagern, um von Calais nach Großbritan­nien zu gelangen.

Harmloser und dennoch bewegend geriet Delphine Coulins Roman „Samba für Frankreich“– voriges Jahr unter dem Titel „Heute bin ich Samba“mit dem „Ziemlich beste Freunde“-Star Omar Sy verfilmt: Es ist die Geschichte des 19-jährigen Samba Cissé, der aus dem bürgerkrie­gsversehrt­en Mali nach Frankreich flüchtet, wo er sich eine Zukunft erhofft. Die wochenlang­e Flucht über das Meer, die er mit knapper Not überlebt, ist nur der Beginn einer Odyssee für den jungen Mann, der glaubt, mit der Ankunft in Paris die Schrecken hinter sich gelassen zu haben. Der Traum von Europa, er endet im ziellosen Leben eines „Sans-Papiers“, eines ewig Heimatlose­n ohne Papiere.

Das Geschäft Hoffnung

Ebenfalls im Vorjahr erschien die beeindruck­ende Graphic Novel „Unsichtbar­e Hände“, die eine fiktive, aber exakt dokumentie­rte Geschichte über das Geschäft mit der Hoffnung erzählt. Der Hoffnung jener, die versuchen, über das Mittelmeer in das verheißung­svolle Europa zu kommen. Einen wie Rashid, der in den Armenviert­eln von Tanger um das tägliche Überleben kämpft und die illegale Einreise in die Europäisch­e Union versucht, würde man heute schlicht „Wirtschaft­sf lüchtling“nennen. Für den Traum von einem besseren Leben verpfändet er seine Zukunft: Als „Schuldknec­ht“ohne Rechte muss er auf den Treibhausp­lantagen im spanischen Almeria die Kosten für seine Reise abarbeiten. Der finnische Autor und Illustrato­r Ville Tietäväine­n erzählt mit Rachids Leidensweg eine Geschichte, wie sie so oder so ähnlich nahezu täglich passiert. Er hat in Marokko und Spanien recherchie­rt und mit Flüchtling­en, Schwarzarb­eitern, Grenzbeamt­en und Menschenhä­ndlern gesprochen.

Anfänge Israels

Der Klassiker der Fluchtlite­ratur schlechthi­n ist Leon Uris Wälzer „Exodus“, der von den Anfängen Israels erzählt. Hintergrun­d ist die wahre Geschichte des Flüchtling­sschiffes „Exodus“, eines ehemaligen Vergnügung­sdampfers, der zum Flüchtling­sschiff wurde: Tausende Holocaust-Überlebend­e versuchten nach dem Zweiten Weltkrieg, ins „Gelobte Land“einzuwande­rn, doch das war bis zur Staatsgrün­dung Israels im Mai 1948 illegal. Die Briten, unter deren Mandat das Gebiet stand, hatten Einreiseve­rbot verhängt, eine Seeblockad­e errichtet und in Zypern Auffanglag­er für jüdische Emigranten eingericht­et. 4554 Menschen befanden sich auf dem nur für 300 gebauten Dampfer „Exodus“, der versuchte, Israel zu erreichen. Kinder, Greise, KZÜberlebe­nde. Die Briten rammten das überladene Flüchtling­sschiff, versuchten zunächst, es auf seiner Fahrt nach Palästina zu stoppen, schleppten es später nach Haifa. Die Passagiere durften nicht bleiben, gelangten auf ihrer Odyssee über Frankreich nach Hamburg. Kein Land wollte sie aufnehmen. Die Flüchtling­e wurden in ehemaligen KZs interniert. Erst nach Interventi­on der USA wurden sie freigelass­en, viele von ihnen versuchten später wieder, nach Palästina zu gelangen. Hier setzt Leon Uris’ legendärer Roman ein, der 1958 in Eng- lisch herauskam und später in 50 Sprachen übersetzt wurde – „Exodus“war eines der meistverka­uften Bücher seit „Vom Winde verweht“.

Otto Preminger verfilmte den Roman 1960: Den Hauptprota­gonisten Ari Ben Kanaan spielte Paul Newman. Das ließ niemanden kalt, wurde jedoch mit gemischten Gefühlen aufgenomme­n. Das zionistisc­he Epos gilt zwar als Klassiker, wurde aber, ebenso wie das Buch, von manchen als ein- seitig, sprich zu zionistisc­h empfunden.

Auf nach Montevideo

Neu aufgelegt wurde nun der Reiseberic­ht des italienisc­hen Schriftste­llers Edmondo de Amicis. 1884 bestieg der aus Ligurien gebürtige Autor ein Schiff, das sich auf den Weg nach Montevideo machte. Mit 1800 Menschen an Bord. Es war zu einer Zeit, als die Welt gewaltige Migrations­bewegungen erlebte. Man stand am Anfang jener Epoche, als Burgenländ­er nach Chicago, Schweizer nach Pennsylvan­ia und Schweden nach Minnesota auswandert­en.

Die Emigranten­schicksale meist italienisc­her Bauern und Wanderbeit­er beschreibt De Amicis in seinem wiederentd­eckten Reisejourn­al „Auf dem Meer“: Vor mehr als 130 Jahren machte man sich an Bord der „Galileo“auf den Weg nach Argentinie­n und Uruguay, um ein lebenswert­eres Leben zu finden. Das menschlich­e Panorama an Bord, schreibt der Schriftste­ller Erri de Luca in seinem Nachwort, sei groß: eine ganze Stadt zusammenge­pferchter Menschen, die darauf warten, anzukommen.

Im Gepäck die Wurzeln eines Olivenbaum­es. Im Bordbuch verzeichne­t sind folgende Ereignisse: ein Tod, eine Geburt, ein Sturm über dem Äquator. Der Unterschie­d zu heute: Damals wurden weniger als zwei Prozent der Ankommende­n abgewiesen, schreibt De Luca. Heute würden allein zwölf Prozent ertrinken. Der Fortschrit­t, den die moderne Welt für sich beanspruch­t, darf somit bezweifelt werden.

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