Die Zukunft, ein vermintes Gelände
Henning Mankell Vorabdruck. Das Buch, mit dem der „Wallander“-Schöpfer gegen die Todesangst anschrieb
Plötzlich kam es mir so vor, als ob sich das Leben verengte. An diesem frühen Morgen kurz nach Neujahr 2014, an dem ich meine Krebsdiagnose erhielt: Da war es, als schrumpfte das Leben. Die Gedanken setzten aus, eine Art öder Landschaft schien sich in meinem Kopf auszubreiten.
Vielleicht wagte ich es nicht, an die Zukunft zu denken. Sie war unsicher, vermintes Gelände. Stattdessen kehrte ich immer wieder zu meiner Kindheit zurück.
Im Alter von acht, neun Jahren dachte ich eine Zeit lang intensiv darüber nach, welcher Tod mir am meisten Angst machte. Das ist nichts Ungewöhnliches. Solche Gedanken hat man in dem Alter. Leben und Tod beginnen zu entscheidenden Fragen zu werden. Kinder sind zutiefst ernste Wesen. Dies gilt nicht zuletzt für das Alter, in dem man sich anschickt, den Schritt zum bewussten Menschen zu tun. Du wirst dir bewusst, dass du eine Identität hast, die nicht austauschbar ist. Wie du in einem Spiegel aussiehst, wird sich im Laufe des Lebens ändern. Aber dahinter verbirgt sich immer die Person, die du bist.
Die Identität wird dadurch geformt, dass man es wagt, sich schweren Fragen gegenüber eine Haltung anzueignen. Das weiß jeder, der seine Kindheit nicht ganz vergessen hat.
Eis und Tod
Meine größte Angst war, auf einem See oder einem Fluss einzubrechen und unter das Eis gezogen zu werden, ohne mich aus dem Eisloch befreien zu können. Unter der Eisdecke zu ertrinken, durch die das Sonnenlicht leuchtet. Das Ersticken im kalten Wasser. Die Panik, von der dich niemand befreien kann. Der Schrei, den niemand hört. Der Schrei, der zu Eis und Tod gefriert.
Diese Angst war nicht erstaunlich. Ich bin in Härjedalen aufgewachsen, wo die Winter lang und hart waren. In der Tat brach auch zu jener Zeit, als ich acht oder neun Jahre alt war, ein Mädchen in meinem Alter auf dem allzu dünnen Eis des Sandtjärn ein. Ich war dabei, als sie herausgezogen wurde. Es hatte sich sehr schnell in Sveg herumgesprochen. Alle kamen angelaufen. Es war ein Sonntag. Die Eltern des Mädchens standen an dem eisbedeckten See, auf dem das schwarze Eisloch gegen all das Weiße abstach. Als die Männer der Freiwilligen Feuerwehr mit ihren Hakenstangen das Mädchen erwischt hatten, verhielten die Eltern sich nicht so, wie man es im Film gesehen oder in Büchern gelesen hatte. Sie schrien nicht. Sie waren vollkommen stumm. Andere wein- ten. Die Lehrerin, wie ich mich erinnere. Der Pastor und die engsten Freunde des Mädchens.
Rauchsignale
Jemand erbrach sich in den Schnee. Es war sehr still. Weißer Dampf stieg aus allen Mündern auf wie unerklärliche Rauchsignale. Die Er- trunkene hatte nicht besonders lange im Wasser gelegen. Aber sie war völlig steif. Ihre wollene Kleidung knackte und knisterte, als man sie in den Schnee legte. Ihr Gesicht war ganz weiß, als wäre es geschminkt. Das blonde Haar unter der roten Mütze stand in gelben Eiszapfen ab.
Aber es gab noch einen anderen Tod, der mir Angst machte. Davon hatte ich irgendwo gelesen. Später habe ich versucht, mich zu erinnern, wo das gewesen war. Vielleicht im Rekordmagasinet, das Sporterzählungen mit Spannung und Abenteuern mischte. Oder vielleicht war es in einem Reisebericht über Afrika oder die arabi- schen Länder. Ich habe die Erzählung nie wiedergefunden.
Sie handelte von Treibsand. Wie ein mit einer Khakiuniform bekleideter Mann, der ein Gewehr über der Schulter trägt und für eine Expedition ausgerüstet ist, in den verräterischen Sand tritt und sofort feststeckt. Er wird unerbittlich hinabgezogen und ist nicht in der Lage, sich zu befreien. AmEnde bedeckt der Sand Mund und Nase. Der Mann ist verloren. Er erstickt, und als Letztes versinkt sein Schopf im Sand.
Lebendiger Treibsand
Der Treibsand war lebendig. Die Sandkörner verwandelten sich in grässliche Tentakel, die einen Menschen verschlangen. Ein menschenfressendes Sandloch.
Verräterisches Eis konnte ich vermeiden. Besonders viele Sandstrände gab es weder an den Seen noch am Fluss Ljusnan. Doch Jahre später, als ich über die Sanddünen bei Skagen wanderte, oder noch später an afrikanischen Stränden konnte die Erinnerung an den heimtückischen Treibsand wieder auftauchen.
Als ich erfuhr, dass ich Krebs hatte, kehrte die Angst aufs Neue zurück. Sie schlug mit aller Kraft zu, das kann ich jetzt im Nachhinein sagen.
Das Gefühl, das mich überkam, war genau wie die Angst vor dem Treibsand. Ich sträubte mich dagegen, hinabgezogen und von ihr verschlungen zu werden, von der lähmenden Einsicht, dass mich eine schwere, unheilbare Krankheit befallen hatte
Ich brauchte zehn Tage, in denen ich nur wenige Stunden Schlaf fand, um mich zu fangen und nicht von der Angst vollständig lähmen zu lassen, die meine ganze Widerstandskraft zunichtezumachen drohte.
Ich erinnere mich nicht, ein einziges Mal so verzweifelt gewesen zu sein, dass ich angefangen hätte zu weinen. Auch nicht, dass ich aus Verzweiflung einfach losgeschrien hätte. Es war ein stummer Kampf, um den Treibsand zu überleben.
Und ich wurde nicht hinabgezogen. Schließlich konnte ich aus dem Sand herausrobben und anfangen, mich dem, was geschehen war, zu stellen. Der Gedanke, mich hinzulegen und auf den Tod zu warten, war verschwunden. Ich würde mich den Behandlungen unterziehen, die heute zur Verfügung stehen. Auch wenn ich nie ganz geheilt werden würde, so bestand doch die Möglichkeit, dass ich noch lange leben könnte.
An Krebs zu erkranken ist eine Katastrophe im Leben eines Menschen. Erst nachher weiß man, ob man in der Lage war, sich ihr zu stellen, ihr Widerstand zu leisten. Was ich in jenen zehn Tagen nach der katastrophalen Diagnose dachte und erlebte, ist mir noch nicht völlig klar. Vielleicht wird es mir nie klar werden? Jene zehn Tage nach dem 8. Januar 2014 sind mir nur schattenhaft in Erinnerung, ebenso dunkel wie der schwedische Winter mit seinen kurzen Tagen. Physisch reagierte ich mit wiederkehrenden Anfällen von Schüttelfrost, die mich im Nachhinein an die Male denken ließen, die ich an Malaria erkrankt war. Ich lag hauptsächlich im Bett, die Decke fest hochgezogen bis ans Kinn.
Stehen gebliebene Zeit
Das Einzige, dessen ich mir heute ganz sicher bin, ist die Empfindung, dass die Zeit stehen geblieben war. Alles war wie in einem verdichteten Universum auf einen Punkt konzentriert, an dem kein Früher oder Später existierte – nur dieses Jetzt. Ein Mensch, der sich am Rand eines Lochs mit tödlichem, saugendem Treibsand festkrallt.
Als ich schließlich die Lust, aufzugeben und mich vom Abgrund verschlingen zu lassen, besiegt hatte, las ich in Büchern nach, was es mit dem Treibsand eigentlich auf sich hat. Und ich entdeckte, dass die Geschichte vom Sand, der einen Menschen hinabziehen und töten kann, nur ein Mythos ist. Alle darüber geschriebenen Erzählungen und Berichte sind Erfindungen. Unter anderem hat eine Universität in Holland das Phänomen in praktischen Experimenten untersucht.
Aber das Bild vom Treibsand ist dennoch eines, zu dem ich mich heute bekenne.
So sahen die zehn Tage aus, die meine Lebensvoraussetzungen vollständig veränderten. Der Treibsand war der Höllenschlund, vor dem ich mich schließlich rettete.