Ewig fuchtelt der Finger
Die besten, schärfsten, klügsten Essays zum zweiten Todestag
Als Marcel Reich-Ranicki zum ersten Mal Angela Merkel begegnete, war er etwas erstaunt. Nachher fragte er seine Frau: „Ist dir etwas aufgefallen bei ihr?“
„Mir fiel auf, dass sie die ganze Zeit geredet hat.“
„Ja, sie hat in der Tat den ganzen Abend gesprochen, sie hat mich nicht zu Wort kommen lassen, und das, ich gebe es zu, das muss man schon können ...“
Später dann hat er sie gelobt: Sie repräsentiere die Vernunft – es sei faszinerend, dass sie allerlei sage, ohne dass ihr eine Dummheit widerfahre.
Reich-Ranicki: „Das ist für einen deutschen Staatsmann etwas ganz Ungewöhnliches.“
Und sie, sie hat sich revanchiert: Dass sein Lebenswerk nicht allein die Summe seiner Lobreden und Verrisse in seiner 50-jährigen Tätigkeit im deutschen Feuilleton sei, hat sie gesagt. Dass er mehr als das sei. Eine Ikone. Kultur. Vor zwei Jahren ist Marcel Reich-Ranicki gestorben, 93jährig, in Frankfurt ... wo man ihn (allein schon aus Neid) nicht vergessen kannt: 15 Jahre war er Literaturchef der
FAZ und hatte einen eigenen Dienst-Mercedes – Kennzeichens F – AZ 734.
Und hat er sich manchmal ein Taxi gerufen, so reichte in der Zentrale seine Stimme, den Namen musste er gar nicht nennen – man wusste sofort, zu wem man den Wagen schicken musste.
Zum Spüren
Zum zweiten Todestag erscheint morgen, Montag „Meine deutsche Literatur seit 1945“, und wenn man’s auch nicht mehr sehen kann (außer am Buchumschlag), so ist der erhobene Zeigefinger stets präsent.
Die besten, klügsten, schärfsten Essays sollen versammelt sein. Sollte man seine selbstherrliche Art nicht gemocht haben: Man bekommt hier immerhin Böll, Schnurre, Grass, Andersch, Lenz, Walser, Kunert, Handke, Genazino ... regelrecht zu spüren: Reich-Ranicki macht auch posthum, was ihm hoch anzurechnen war: Lust auf Literatur.