Kurier

Interview. Wenn Alex mit Ahmed lernt

Soziologin Nagy versteht die Angst vieler Eltern vor der Gesamtschu­le und plädiert trotzdem dafür

- VON UTE BRÜHL Kasten unten). (siehe

Die Gesamtschu­le hat kein gutes Image: Besonders in den Städten vermeiden Eltern, ihre Kinder in die Neue Mittelschu­le zu geben. Warum Getrud Nagy, Soziologin und Lehrerin, sie dennoch für wichtig hält, darüber diskutiert sie heute in Wien KURIER: Sie sagen, die Gesamtschu­le wäre notwendig. Warum denn eigentlich? Gertrud Nagy: Aus zwei Gründen. Erstens ist es nicht gut, nur leistungss­chwache Schüler in einer Klasse zu haben. Da kumulieren die Probleme, die die Jugendlich­en mit in die Schule bringen, die Schüler ziehen sich gegenseiti­g nach unten und brechen die Schule ab. Die Folgen sind für die Wirtschaft und die Gesellscha­ft fatal, womit wir beim zweiten Punkt wären. Wenn Achmed und Kevin nicht mit Lisa und Alexander zusammenko­mmen, entstehen Parallelge­sellschaft­en. Die wünscht sich niemand. Die Mittelschi­cht setzt in den Ballungsze­ntren alles daran, dass ihre Kinder nicht in eine Neue Mittelschu­le (NMS) gehen. Verstehen Sie die Eltern?

So wie die Situation in den städtische­n NMS derzeit ist, kann ich die Entscheidu­ng der Eltern nachvollzi­ehen. Sie haben Angst davor, dass sich das Niveau nach unten nivelliert – und zwar sowohl was die schulische Leistung anbelangt als auch das Sozialverh­alten. Eine Rolle mag auch noch spielen, dass sie sich von der Unterschic­ht abgrenzen wollen. Wie könnte man diese Eltern, die eine gute Bildung für ihr Kind wollen, denn überzeugen?

Zunächst geht es um Schadenbeg­renzung für Kin- der mit schlechten Ausgangsbe­dingungen. Das kostet Geld, aber Bildung muss uns mehr wert sein. Politiker denken oft nicht so weit, sie denken in Legislatur­perioden. Investitio­nen ins Bildungssy­stem sind erst Jahre später sichtbar, wenn die Politiker nicht mehr am Ruder sind. Welche Maßnahmen würden Sie vorschlage­n?

Wir brauchen eine neue Lernkultur, die auch leistungss­chwachen Schülern mehr Freude am Lernen vermittelt – und damit meine ich nicht Spaß. Es geht um das, was Fachleute personalis­iertes Lernen nennen: Lehrer müssen jedem Kind vermitteln, dass es wichtig ist, und sich mit ihm über jeden Lernzuwach­s freuen. Der Unterricht selbst muss differenzi­ert werden, was heißt, dass alle entspreche­nd ihrer Möglichkei­ten gefördert und gefordert werden. Sind die Lehrer überhaupt entspreche­nd ausgebilde­t?

Nicht alle – darum muss in die Fortbildun­g investiert werden. Viel abschauen können sich die Pädagogen von den Integratio­nslehrern, die wissen wie man differenzi­ert und im Team unterricht­et. Zum Handwerk müsste auch gehören, dass die Pädagogen besser Diagnosen erstellen können, warum ein Kind bestimmte Lernproble­me hat. Diese Herausford­erungen können sie natürlich nicht immer alleine schultern, weshalb sozialpäda­gogisches Unterstütz­ungsperson­al vor Ort sein sollte. Nötig wäre zudem eine indexbasie­rte Mittelzuwe­isung, die dafür sorgt, dass für Kinder mit Problemen mehr Ressourcen zur Verfügung stehen. Sinnvoll sind Ganztagssc­hulen, wo Kinder neben Lernunters­tützung Freizeit- angebote haben, die ihnen ihre Eltern nicht ermögliche­n können. So erleben sie Schule positiv. Muss man Kinder und Eltern aus bildungsfe­rnen Schichten stärker in die Pflicht nehmen?

Natürlich müssen wir diese Eltern ermächtige­n, sich stärker um schulische Angelegenh­eiten zu kümmern und ihnen klar machen, dass sie für den Bildungser­folg mitverantw­ortlich sind. Den Schülern – ein Problem haben wir vor allem mit Burschen – müssen wir Grenzen aufzeigen. Wir dürfen sie aber nicht ausgrenzen, denn wenn sie sich ins Abseits gedrängt fühlen, schließen sie sich schul- und gesellscha­ftsablehne­nden Gleichaltr­igen an. Das kann den sozialen Frieden gefährden, was sicher nicht im Interesse der Mittelschi­cht ist. Sie nennen die Rütli-Schule in Berlin als Beispiel, wie man eine Brennpunkt­schule, die im ganzen Land verrufen ist, zu einem erfolgreic­hen Lernort machen kann. Warum überträgt man nicht einfach solche Konzepte?

Sicher ist dort in den vergangene­n zehn Jahren viel Gutes passiert, aber die für den Zusammenha­lt wichtige soziale Diversität fehlt.

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