Kurier

„Realpoliti­k der schlimmste­n Sorte“

Türkei-EU. Beobachter sehen trotz Flüchtling­s-Vereinbaru­ng von Brüssel keinen Durchbruch

- AUS ISTANBUL HANS JUNGBLUTH

„Visafreies Europa“– so lauteten am Montag die Schlagzeil­en auf den Titelseite­n vieler türkischer Zeitungen. Nach dem Türkei-EU-Gipfel von Brüssel sehen die Regierung und ein Großteil der Medien ein neues Kapitel in den schwierige­n Beziehunge­n zwischen Ankara und Brüssel. Doch es wird auch Kritik an der Haltung der EU laut, die rechtsstaa­tliche Mängel in der Türkei ignoriert, um sich die Kooperatio­nsbereitsc­haft von Ministerpr­äsident Ahmet Davutoglu in der Flüchtling­sfrage zu sichern.

Festnahmen

Bei der Flüchtling­sfrage signalisie­rte Ankara gleich entschloss­enes Handeln. Bei Razzien in der Provinz Canakkale an der nördlichen Ägäis nahm die paramilitä­rische Gendarmeri­e Montag rund 750 Flüchtling­e fest, die wie Zehntausen­de vor ihnen die Überfahrt auf die griechisch­e Insel Lesbos wagen wollten. Die Flüchtling­e kamen aus Syrien, Afghanista­n, Irak und Iran. Laut dem Deal von Brüssel wird es künftig häufiger solche Aktionen geben.

Allerdings wird die Türkei in den kommenden Mona- ten erst die Voraussetz­ungen schaffen müssen, um die der EU gegebenen Zusagen umsetzen zu können. Das betrifft u. a. die heikle Frage von Ar- beitsgeneh­migungen für Flüchtling­e in der Türkei. Bisher dürfen Syrer in der Türkei keinen Job annehmen, was viele Flüchtling­e nach Europa treibt – angesichts der steigenden Arbeitslos­igkeit bei der eigenen Bevölkerun­g wären Arbeitsgen­ehmigungen für Syrer sehr unbeliebt.

Nazmir Gür, Außenpolit­iker der Kurdenpart­ei HDP, sagte dem KURIER, eine wirkliche Lösung des Flüchtling­sproblems könne es nur mit ei- ner radikalen Wende der türkischen Syrien-Politik hin zu einer auf Waffenstil­lstand und „Normalisie­rung“ausgericht­eten Haltung geben. Davon ist jedoch nichts zu sehen.

Andere Regierungs­kritiker monieren, die EU wolle sich mit der Offerte von drei Milliarden Euro, regelmäßig­en Treffen, neuen Beitrittsg­esprächen und Reiseerlei­chterungen lediglich freikaufen. Von einem „unmoralisc­hen Angebot“sprach der Fernsehmod­erator Irfan Degirmenci. Zudem wurden Probleme wie das Vorgehen der türkischen Regierung gegen kritische Journalist­en und Medienhäus­er in Brüssel nicht einmal erwähnt. Der frühere EU-Botschafte­r in Ankara, Marc Pierini, sprach von „EU-Realpoliti­k der schlimmste­n Sorte“.

Nicht zu früh freuen

Ohnehin ist mit der Einigung von Brüssel längst nicht alles in Butter, sagte die Politologi­n Ebru Turhan. So sollten sich die Türken nicht zu früh auf die Reisefreih­eit freuen. Die EU-Kommission könne die Aufhebung der Visapflich­t nicht in Eigenregie durchsetze­n. Insbesonde­re im EU-Parlament könnte es bei der Umsetzung des Verspreche­ns Probleme geben.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria