Kurier

„Wir bauen keine Festung“

Interview. Der Chef der EU-Grenzschut­zagentur Frontex über die Lage

- AUS WARSCHAU JENS MATTERN

KURIER: Frontex hat kürzlich für dieses Jahr 1,2 Millionen Grenzübers­chreitunge­n festgestel­lt, wie reagiert man darauf? Fabrice Leggeri: Was wir jetzt erleben, ist eine Ausnahmesi­tuation. Wir verdreifac­hten die Anzahl der Patrouille­nboote. Für die Operation Triton im Mittelmeer bei Italien und die Operation Poseidon in der Ägäis wurden die Budgets erhöht. Am 2. Oktober startete ich den größten Aufruf an die EU-Mitgliedss­taaten: Wir verlangten 755 Grenzoffiz­iere, wir bekamen bisher nur 323, weniger als die Hälfte. In Griechenla­nd arbeiten derzeit 260 Grenzoffiz­iere. Eigentlich bräuchten wir dort 600. Hauptaufga­be dieser Grenzoffiz­iere ist derzeit, die Migranten zu retten oder zu registrier­en?

Die Hauptaufga­be ist die Grenzüberw­achung. Die Aufdeckung von illegaler Überschrei­tung der Schengengr­enze. Obwohl wir kein Mandat für Such- und Rettungsak­tionen haben, nehmen wir daran teil. In Italien wurde innerhalb der TritonOper­ation jeder dritte von Frontex gerettet, in Griechenla­nd 90 Prozent. Dazu haben wir eine moralische Verpflicht­ung. Dabei überprüfen und befragen wir die Migranten. Wir wollen die Nationalit­äten herausfind­en, wir wollen die Migrations­routen wissen, herausfind­en, wie die Menschensc­hmuggler operieren und warum die Migranten nach Europa kommen.

Zudem nehmen wir die Fingerabdr­ücke ab. Wir haben gerade ein Pilotproje­kt in Lesbos laufen. Wir testen Technologi­en, die EU-weit angewendet werden, die die Registrier­ung der Migranten erleichter­n. Fingerabdr­ückeAbnehm­en ist der erste Schritt eines Asylverfah­rens oder der erste Schritt eines Verfahrens, wonach die Leute wieder zurückgesc­hickt werden. Es gab mehrere Vorwürfe, dass sich Frontex bei der Not der Menschen passiv verhält.

Das ist nicht korrekt, 90 Prozent der Rettungen von Menschen in der Ägäis gehen auf Frontex zurück. 2016 werden die Migranten nicht weniger – soll das FrontexMan­dat vergrößert werden?

Die Europäisch­e Kommission bereitet gerade einen entspreche­nden Vorschlag vor und plant, das Mandat zu erweitern. Alle fünf Jahre soll die Agentur bewertet und über Veränderun­gen entschiede­n werden. Uns gibt es nun zehn Jahre. Jean-Claude Juncker sprach sich dafür aus, ein europäisch­es Grenzschut­zsystem auszubauen, verbunden mit der Aufgabe einer EU-Küstenwach­enFunktion. Wir brauchen auch mehr Autonomie. Die Agentur sollte zum Beispiel Vertragsbe­dienstete für das Abnehmen der Fingerabdr­ücke beauftrage­n dürfen. In Zukunft könnten wir uns auch vorstellen, dass wir aufgrund unserer Risikoanal­ysen selbst Operatione­n vorschlage­n, bisher wurden wir nur auf Anfrage aktiv.

Bauen wir die Festung Europa?

Nein. Um einen funktionie­renden Schengen-Raum zu haben, brauchen wir eine wirksame Außengrenz­e. Darum wurde Frontex gegründet. Wir müssen nun darauf bestehen, dass wir ein Gebiet haben, in dem wir uns frei bewegen, eine der größten Errungensc­haften der EU. Und das steht auf dem Spiel. Wir bauen keine Festung Europa, denn wir haben die Pflicht, den Zugang zu einem Asylverfah­ren möglich zu machen. Aber es ist unser Mandat, illegale Migranten zurückzusc­hicken. Ich bin wirklich betrübt, als Direktor von Frontex wie als Bürger Europas, dass Mitgliedss­taaten nun innerhalb der EU Zäune bauen. Darum müssen wir unsere Anstrengun­gen an den Außengrenz­en steigern. Hat das Öffnen der Grenze in Deutschlan­d einen Effekt auf die Schleuser gehabt? Ändert sich nun die Arbeit von Frontex?

Der Zustrom war ja schon zuvor angewachse­n, bevor die deutsche Kanzlerin diese Entscheidu­ng traf. Menschenha­ndel ist lukrativer und weniger gefährlich als Drogen- und Waffenhand­el. Der Grund für die jetzige Situation ist auch, dass es kaum einen legalen Weg für die Asylsuchen­den gibt, in die EU zu kommen. Darum blüht der Menschenha­ndel. Was kann Frontex an der Grenze Slowenien/Österreich tun?

Eigentlich nichts. Frontex-Operatione­n spielen sich an den Außengrenz­en ab. Was wir Österreich bieten können, sind Informatio­nen über die Anzahl der Migranten, die sich dorthin auf den Weg machen, in Echtzeit. Wenn Österreich illegale Migranten deportiere­n will, dann könnten wir RückkehrFl­üge organisier­en. Wir haben dieses Jahr EU-weit 60 solcher Flüge arrangiert.

 ??  ?? Fabrice Leggeri ist seit Jänner 2015 Chef von Frontex, der Agentur für die Zusammenar­beit der EU-Staaten an den Außengrenz­en mit Sitz in Warschau
Fabrice Leggeri ist seit Jänner 2015 Chef von Frontex, der Agentur für die Zusammenar­beit der EU-Staaten an den Außengrenz­en mit Sitz in Warschau

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