Später Ruhm.
Es war ein Phänomen, das keiner verstand: Der deutsche Psychiater Alois Alzheimer entdeckte es 1906. Und gab der Demenz-Erkrankung ihren Namen – vor 100 Jahren starb er.
Es ist die Krankheit, vor der sich die Menschen am meisten fürchten. 1906 hat sie noch niemanden interessiert: Als Alois Alzheimer, bestens vorbereitet, mit klarer Stimme bei der „Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte“in Tübingen seine brisanten Erkenntnisse referiert, gibt es keine Reaktionen. Keine Fragen, keine Kommentare. Der Vorsitzende vermerkt später: „Offenbar besteht kein Diskussionsbedarf.“Alzheimer ist enttäuscht.
Der Fall Auguste D.
Der Mann, der im Labor gerne Zigarre raucht und Stunden vor dem Mikroskop sitzt, gilt als Arbeitstier. Und er interessiert sich für spezielle Fälle – wie zum Beispiel für Auguste Deter aus Kassel.
Ihr Mann, ein Eisenbahnkanzlist, brachte sie im November 1901 in die „Anstalt für Irre und Epileptische“in Frankfurt amMain, da sie sich binnen eines Jahres stark verändert hatte: Sie versteckte Gegenstände, klingelte bei Nachbarn, tobte vor Eifersucht und fühlte sich verfolgt. Ähnlich verhält sie sich in der Klinik. Sie sitzt ratlos und verängstigt im Bett, fasst anderen Patienten ins Gesicht, schlägt sie.
Es ist nicht das erste Mal, dass Oberarzt Alzheimer Menschen mit geistiger Verwirrung begegnet. Ihre Fälle waren für ihn aber nie bedeutsam, da die Patienten meist über 70 Jahre waren. Auguste Deter macht ihn stutzig. Sie ist erst 51.
Der Psychiater sieht seine Patientin fast täglich. Er zeigt ihr Gegenstände, die sie sofort vergisst, und bittet sie, „Frau Auguste D.“zu schreiben. Sie schreibt allerdings nur „Frau“, das andere hat sie vergessen. Eine Patientin, die während des Schrei- bens ihren Namen vergisst, so etwas hat er noch nie erlebt. Alzheimer hebt das Schriftstück auf, versieht es mit Datum und Namen. Bei einem Besuch sagt sie später: „Ich habe mich sozusagen verloren.“Auguste Deter war bewusst, was mit ihr geschieht. Und Alois Alzheimer war bewusst, dass ihr Fall von wissenschaftlicher Bedeutung ist.
Vom Ehrgeiz gepackt
Während der Hirnforscher tagsüber Patienten untersucht, sitzt er nachts vor seinem Mikroskop und forscht. Er macht Überstunden, unentgeltlich, kann es sich aber finanziell leisten. Alzheimer ist vom Ehrgeiz gepackt und überzeugt: „Es müssen ganz zweifellos mehr psychische Krankheiten existieren, als sie unsere Lehrbücher aufführen.“Er lässt Auguste Deter fotografieren: im Nachthemd, mit angewinkelten Beinen im Bett, Haarsträhnen fallen ihr ins Gesicht.
„Auguste D. ist nach wie vor abweisend, schreit und schlägt, sobald man sie unter- suchen will. Sie schreit auch spontan und dann oft stundenlang, so daß sie im Bett gehalten werden muß“– so lautet Alzheimers letzter Protokoll-Eintrag aus Frankfurt.
1902 wechselt er nach Heidelberg zum berühmten Psychiater Emil Kraepelin. Seine Patientin Auguste D. geht ihm aber nicht aus dem Kopf. Er ruft regelmäßig in Frankfurt an. Und verhindert so, dass sie aus Kostengründen verlegt wird.
1906 erhält er einen Anruf aus Frankfurt: Auguste Deter ist in völliger Umnachtung gestorben. Jetzt muss alles schnell gehen. Er seziert ihr Gehirn und stellt fest: Das Hirngewebe war geschrumpft. Außerhalb der Nervenzellen sieht er Eiweißklumpen, senile Plaques genannt. Und in den Neuronen liegen Bündelstrukturen, die verfilzten Fasern ähneln.
„Eine Pionierstat“, so wird Alzheimers Forschung heute von Peter Dal-Bianco, Leiter der Spezialambulanz für Gedächtnisstörungen und Demenzerkrankungen an der MedUni Wien/AKH Wien, bezeichnet. „Alzheimer hat in frühen Jahren durch sehr gute Beobachtungen und Expertise in der Neuropathologie ein Krankheitsbild gezeichnet, das damals keine Bedeutung hatte. Die geistige Leistungsschwäche im Alter sah man als so gegeben“, sagte Dal-Bianco beim vergangenen Science-Talk des Wissenschaftsministeriums.
1910 taucht im „Lehrbuch der Psychiatrie“– damals ein „Muss“für Medizinstudenten – zum ersten Mal der Name „Alzheimersche Krankheit“auf. Emil Kraepelin, Alzheimers Mentor, hat ihn in einem Demenz-Kapitel verewigt. Allerdings erst auf Seite 627.