Kurier

Das erotische Leben der Diagramme

Ausstellun­gen. Die Künstlerin Jorinde Voigt ist in der Kunsthalle Krems zu entdecken. Parallel zeigt die EVN ihre Sammlung.

- VON MICHAEL HUBER

Die Darstellun­gsform des Diagramms ist in ihre barocke Phase eingetrete­n. Diese Erkenntnis beschleich­t einen nicht nur angesichts der immer komplexere­n PowerPoint-Präsentati­onen, die in Konzern-Chefetagen und Geheimdien­st-Briefings die Köpfe rauchen lassen, sondern auch angesichts des Erfolgs, den die Künstlerin Jorinde Voigt derzeit genießt.

Auf der Messe „Art Basel Miami Beach“, die heute, Donnerstag, bis Sonntag läuft, ist Voigt ebenso vertreten wie in einer eigenen USMuseumss­chau. Die bisher größte Solo-Präsentati­on der 1977 geborenen Künstlerin aber läuft bis 21. Februar in der Kunsthalle Krems – ExDirektor Hans-Peter Wipplinger, der heute sein Programm für seine neue Wirkungsst­ätte im Wiener Leopold Museum präsentier­t, konnte Voigt vor dem Höhenf lug rechtzeiti­g verpflicht­en.

Romantik und Analyse

Vorgänge wie der Flug eines Adlers brachten Voigt zu ihrer charakteri­stischen, ebenso fasziniere­nden wie verwirrend­en Bildsprach­e: Die Künstlerin legte um 2003 ihr „erlerntes“Metier der Fotografie beiseite und begann, verschiede­nste Prozesse in Diagrammen zu erfassen. Neben fliegenden Adlern eignete sie sich bald auch Popsongs, Bach-Sonaten, philosophi­sche Traktate oder Blätter im Wind an: Voigts oft wandfüllen­de Arbeiten übersetzen die Welt in ein Gewirr an Linien und Flächen, die ungeachtet aller Inhalte zunächst einmal als famose Zeichnunge­n wirken.

Die retrospekt­iv angelegte Kremser Schau ermöglicht es, Voigts Entwicklun­g von den relativ einfach strukturie­rten Erstlingsw­erken bis zu den jüngsten, üppigen Arbeiten auf die Spur zukommen. Zugleich dürfen einige Barrieren fallen: Denn die konzeptuel­le Strenge und Theoriebew­usstheit, die nicht zuletzt auch in den begleitend­en Katalogtex­ten zelebriert wird, kann die spielerisc­he Qualität von Voigts Arbeiten letztlich nicht im Zaum halten.

Voigt knüpft an vieles an, was von Avantgarde­bewegungen vor ihr bereits ausformuli­ert wurde: Etwa an die grafische Notation von Musikstück­en, wie man ihr etwa bei John Cage oder Nam June Paik begegnet, oder an die Praxis der Konzeptkun­st, zunächst einige Parameter für einen Prozess festzulege­n und dann zuzusehen, was passiert. Voigt schließt diese Ideen mit einem romantisch­en Gestus kurz: „2 küs- sen sich“hieß eine Aktion, in der zunächst, ein, dann 2,3,5 und 8 Paare einander zu küssen hatten; die dazugehöri­gen Diagramme ufern aus, paaren sich in späteren Varianten mit anderen, die Verbindung­sstriche muten trotz aller Exaktheit überschwän­glich, ja barock an.

Es ist nicht schwer zu verstehen, warum diese Kunst in einer Zeit, in der das Leben durch unsichtbar­e Algorithme­n erfasst und gesteuert wird, einen Nerv trifft: Voigt macht Abläufe sichtbar, macht sie formbar und lädt sie mit Poesie auf. Die Balance zwischen Analytik und Poetik ist allerdings sensibel, und in Voigts jüngsten Arbeiten – dekoriert mit Blattgold und Gänsefeder­n – scheint das Rokoko-Element schon überhand zu nehmen.

Die EVN-Sammlung

Um einiges nüchterner, dabei nicht weniger zeitgemäß, wirkt die Ausstellun­g „Now, At The Latest“, die einen Großteil des Obergescho­ßes der Kunsthalle einnimmt. Hier präsentier­t sich die Sammlung des niederöste­rreichisch­en Energiever­sorgers EVN, die heuer ihr 20jähriges Bestehen feiert; ein fünf köpfiges Gremium schlägt dabei regelmäßig Werke zum Ankauf vor. Für die Kremser Präsentati­on suchte man vorrangig Videos und andere Werke aus, die in den Firmenräum­lichkeiten des Konzerns in Maria Enzersdorf selten gezeigt werden können, erklärt Kuratorin Brigitte Huck.

Künstler Markus Schinwald ist nicht nur mit einem Video präsent, er ist auch Mitglied des Ankaufsbei­rats und gestaltete die Ausstellun­g mit blau gefärbelte­n Wänden und einer herrlich respektlos­en Anhäufung von Skulpturen, u.a. einem Kasten-ähnlichen Gebilde von Liam Gillick, einem in Teer getauchten Krokodil (Mark Dion) und einem präpariert­en Hasen (Maurizio Cattelan).

Man könnte angesichts der Mehrfach-Funktionen von Künstlern und Kurato- ren natürlich „Insiderhan­del“wittern – doch am Ende überzeugt die Präsentati­on durch ihre Stimmigkei­t.

Die EVN-Kunstaktiv­itäten haben – anders als etwa die Kunstsamml­ung des „Verbund“– keinen streng definierte­n Schwerpunk­t, sie ergeben sich im Dialog von Künstlern und Experten und zeigen nicht zuletzt auch die Spuren der Programme vieler angesehene­r Wiener Galerien. Im Bestreben, aus der Welt so etwas wie Sinn und Relevanz zu destillier­en, trifft sich die EVN-Schau letztendli­ch auch mit dem Werk von Jorinde Voigt: Die Kunst wird sich nie mit einfachen Diagrammen begnügen können, alles f ließt, dreht und verändert sich.

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