Kurier

Ein jüdisches Käppchen zu tragen, wird immer lebensgefä­hrlicher

Frankreich. In Marseille häufen sich Messerangr­iffe von radikalen Islamisten auf Juden.

- AUS PARIS DANNY LEDER

Gewaltakte gegen Juden beschäftig­en wieder die französisc­he Öffentlich­keit. Seit über einem Jahrzehnt verdüstern Übergriffe seitens radikalisi­erter Jugendlich­er aus muslimisch­en Familien oder extremisti­scher Islam-Konvertite­n den Alltag jüdischer Gläubiger. In einigen Fällen mutierten die Nahbereich­speiniger der Juden zu dschihadis­tischen Attentäter­n.

Zuletzt war der Eindruck entstanden, die besondere Bedrohung der Juden sei zurückgega­ngen, weil sich die Angriffspr­ojekte der Dschihadis­ten auf andere Ziele ausdehnten: Kirchen, Fabriken, Militärbas­en, und, bei den Gemetzeln im November, das Fußballsta­dion und die Kneipen der Multikulti­Viertel von Paris.

Angriff mit Machete

Jetzt ist aber wieder klar geworden, dass die Juden Frankreich­s – rund eine halbe Million Menschen mit mehrheitli­ch nordafrika­nischen Familienwu­rzeln – an vorderster Stelle in der Gefährdung­sskala stehen. Gestern wurde in Marseille ein jüdischer Lehrer, der eine Kippa trug, von einem Jugendlich­en mit einer Machete angegriffe­n. Wie durch ein Wunder glitt sie an der Kleidung des Lehrers ab. Der Angreifer wurde von Passanten in die Flucht geschlagen. „Ich sah mich schon geköpft“, erzählte der nur leicht verletzte Lehrer.

Der 16-jährige Täter, der aus einer vor fünf Jahren eingewande­rten, bisher völlig unauffälli­gen türkischen Familie stammt, erklärte nach seiner Festnahme, er habe „im Namen Allahs“und in Übereinsti­mmung mit dem „Islamische­n Staat“gehan- delt. Er bedauere, dass sein Opfer nicht gestorben sei. Das nächste Mal werde er „Polizisten erschießen“. Über die französisc­hen Muslime sagte er, sie hätten durch ihre Passivität „den Islam entehrt“.

Im Anschluss an diesen Angriff enthüllte die Staatsanwa­ltschaft, dass in den letzten Wochen in Marseille ein „rasanter Anstieg“der Fälle von Auf hetzung, rassistisc­her Todesdrohu­ngen und Terror-Verherrlic­hung verzeichne­t wurde. Es wurden zwar auch gegen Muslime gerichtete Taten registrier­t, darunter eine Attacke auf eine Frau, die ein islamische­s Kopftuch trug: Ihr wurden mit einem Cutter Stichwunde­n zugefügt. Aber der „über- wiegende Teil“der Vorfälle richtete sich gegen Juden.

Schon am 18. November war ein jüdischer Lehrer mit einem Messer angegriffe­n worden. Wiederum in Marseille waren im Oktober vier Personen vor einer Synagoge bei einem Messeransc­hlag verletzt worden.

„Nicht klein beigeben“

Ein jüdischer Würdenträg­er in Marseille empfahl nun den Gläubigen, „die Kippa nicht mehr auf der Straße zu tragen, bis wieder bessere Tage kommen“. Frankreich­s Oberrabbin­er, Haim Korsia, widersprac­h: „Wir sollten nicht klein beigeben.“Dafür rief er alle Fans des Fußballklu­bs „Olympique Marseille“auf, aus Soli- darität beim nächsten Match Kopf bedeckunge­n zu tragen. Tatsächlic­h häufen sich angesichts dieser Bedrohung Angebote von Nicht-Juden, die Kippa zu tragen.

In der französisc­hen Mehrheitsg­esellschaf­t war der Antisemiti­smus noch nie so gering wie heute. Die Politiker stehen den Juden entschloss­en zur Seite. Die Behörden ahnden anti-jüdische Drohungen aufs Schärfste. Ein Gymnasiast wurde zu einer zehnmonati­gen Haftstrafe verurteilt, weil er bei einem Diskussion­stag an seiner Schule nach den Anschlägen von Paris erklärt hatte, man sollte „die Juden, die hinter diesen Attentaten stecken, über den Haufen schießen“.

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Angst vor Gewalt: Hunderte Juden emigrierte­n im vergangene­n Jahr nach Israel (Bild: Ankunft in Tel Aviv)

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