Die kleine Frau Tsai – demnächst ganz groß
Präsidentenwahl. Oppositionschefin als Favoritin
Margaret Thatcher, sagt Taiwans Oppositionsführerin Tsai Ing-wen, sei ihr Idol gewesen. „Ich habe ihre Wendigkeit und ihre Stärke bewundert“, streut die Politikerin, die sich anschickt, die erste Frau an der Spitze Taiwans zu werden, der früheren konservativen Regierungschefin späte Rosen. Wie ihr britisches Vorbild dürfte nun auch die 58-jährige Universitätsprofessorin Geschichte schreiben: Eine Frau in der hermetisch verschlossenen, männerdominierten politischen Welt Ostasiens – ganz oben. Das hat bisher nur Südkoreas Präsidentin Park Geun-hye geschafft – diese hatte aber den Startvorteil, Tochter des langjährigen Präsidenten Park Chung-hee zu sein.
Tsai Ing-wen startete ganz ohne familiäre Anschiebehilfen. In Kanada, später auch an der renommierten London School of Economics, hat sie studiert. Nach ihrer Rückkehr wurde die talentierte Juristin alsbald in die Politik gebeten, wo sie in der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) einen kometenhaften Aufstieg hinlegte.
Mit Argusaugen
Im fernen Peking verfolgt man den Werdegang der stets bescheiden, manchmal gar zurückhaltend auftretenden Tsai mit Argusaugen. Weniger, weil sie als erste Frau in der gesamten chinesischen Politikwelt ganz oben entscheiden würde – in Chinas mächtigem Politbüro wurde noch nie ein weibliches Mitglied gesichtet –, vielmehr geht die Chefin der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) bei den Präsidentenwahlen am Samstag einem sicheren Sieg entgegen. Sehr zum Missfallen Chinas, das Taiwan als abtrünnige Provinz sieht und allen Unabhängigkeitsbestrebungen der Insel gefährlich grollend gegenübersteht. Und anders als die Chinafreundliche Regierungspartei Kuomintang pocht die DPP auf deutlich mehr Distanz zu Peking.
Doch den großen Konflikt mit China wird die als pragmatisch geltende Tsai Ing-wen nicht riskieren. „Wir werden alles tun, damit die gegenseitigen Beziehungen zu einer treibenden Kraft für Frieden in der asiatisch-pazifischen Region werden“, sagte Tsai in einem Interview mit dem Daily Telegraph.
Nur ein paar Schuhe
Dass sie Wort halten kann, hat die unverheiratete, kinderlose DPP-Chefin bereits bewiesen. Nach einer schweren Parteikrise baute Tsai den gesamten Parteiapparat von Grund auf um. Die zarte, kleingewachsene Tsai bewies Zähigkeit, Härte und eisernen Willen, als interne Parteineider sie schon wieder absägen wollten.
Heute führt die DPP in allen Umfragen uneinholbar – und Tsai Ing-wen hat sich als Role Model für eine disziplinierte, effiziente und geradezu selbstlose Politikerin die Bewunderung großer Bevölkerungsteile erkämpft. Sie liebt schnelle Autos, sagt sie – besitzt solche aber nicht. Bescheidenheit ist angesagt, mit einer Präsidentin Tsai Ing-wen – einer Frau, die sich einst brüstete, ein Paar Schuhe 16 Jahre lang getragen zu haben.