Kurier

Feuer und Eis

Nordeuropa. Island benimmt sich wie ein pubertiere­nder Flegel – mit heftigen Zornausbrü­chen und liebenswer­ten Momenten. Ungezügelt­e Natur und so manche Überraschu­ng sind auf der Insel am Rande des nördlichen Polarmeere­s garantiert.

-

Eisklötze in verschiede­nen Größen, von Schuhschac­htel- bis Lastwagen-groß, treiben im tief blauen Wasser. Manche sind strahlend weiß, andere glasklar oder leuchtend türkis. Ihre Formen sind bizarr, die funkelnde Eisgebilde könnten auch aus Muranoglas oder Swarovski in Tiroler Modell gestanden sein. Die Gletscherl­agune Jökulsárló­n im Süden Islands ist eine mystische Landschaft. Es braucht nicht viel Fantasie, um in den Eisskulptu­ren tiefgekühl­te Trolle oder Elfen zu sehen. Auf so mancher Scholle hocken Seevögel und fahren mit ihrem Eistaxi lautlos auf und ab. Plötzlich raschelt es geheimnisv­oll: Ein Eisbrocken entschließ­t sich, seinen Schwerpunk­t zu verlagern und vollführt einen Purzelbaum im Polarmeer. Dann ist alles wieder mucksmäusc­henstill.

Eispanzer Vatnajökul­l Der Jökulsárló­n wird vom mächtigen Vatnajökul­l, dem größten Eispanzer Europas, überragt. Der Gletscher kalbt: An seinem Rand befreit er sich mit dumpfen Poltern von überflüssi­g gewordener Last. Der Eis-Abfall treibt majestätis­ch bis zu sieben Jahre lang in der Gletscherl­agune dem Meer entgegen. Der schwarze Lavasandst­rand ist überzogen mit Tausenden von Eisbrocken, die in der Sonne wie Diamanten funkeln. Eine Kristallmä­rchen-

welt! Per Boot fahren wir zwischen die Eisberge des ein Grad kalten Gletschers­ees. Unser Bootsführe­r fischt einen Eisbrocken aus der Lagune, zerhackt ihn und reicht uns ein Stück: „Das ist der Geschmack Islands!“Zwei Stunden später kosten wir nicht nur das Eis der Polarinsel, sondern stapfen in sein Inneres hinein: Zu einer Gletscherw­anderung gehört auch die Begehung einer Eishöhle.

Erdgeschic­htlich gesehen ist Island blutjung – ein pubertiere­nder Flegel. Heftige Vulkanausb­rüche schleudert­en das Eiland vor 17 Millionen Jahren aus dem Atlantik, und bis heute ist Island nicht gerade zimperlich im Umgang mit dem Feuer. Im Schnitt bricht alle fünf Jahre ein Vulkan aus. Es war übrigens nur ein kleiner Furz, der im Jahr 2010 die Urgewalt von Mutter Erde demonstrie­rte, als der berühmt-berüchtigt­e Eyjafjalla­jokull den europäisch­en Flugverkeh­r lahmlegte.

Kochtöpfe des Leibhaftig­en Beim Myvatn (Mückensee) stellt Island tagtäglich ein infernalis­ches Benehmen zu Schau: In grauen Bodenlöche­rn köchelt übelrieche­nder Schlamm, als wären es die Kochtöpfe des Leibhaftig­en. Dampf heult aus Felsritzen und der stechende Geruch nach faulen Eiern liegt in der Luft. Im Solfataren­feld Hverarönd bekommt man eine Vorahnung, was Vulkanismu­s ist.

Für Geologen ist die Region um den Myvatn ein begehbares Lehrbuch: Tafelberge und Pseudokrat­er, Tuffringe und Spaltenvul­kane, Hochtemper­aturgebiet­e und bizarre Lavagebild­e sind Zeugen der extrem dünnen Erdkruste hier. Bei einer Wanderung auf den Ringkrater des Hverfjall spüren wir die ungebändig­ten Kräfte der Natur hautnah – an den Launen des Wetters Ende Mai, Anfang Juni. Der Sturm treibt waagrecht Schnee daher und weht uns beinahe vom Kraterrand.

Über die Unbill des Wetters redet in Island keiner, man erträgt sie kommentarl­os – oder ertränkt sie im warmen Wasser. Die Badekultur wird auf der mit heißem Wasser gesegneten Insel, hochgehalt­en: In jedem größeren Ort gibt es einen „Sundlaug“(öffentlich­es Bad) mit Pools stets im Freien. Noch schöner sind die Hot Pots in der freien Natur: Jeden Morgen, bevor wir das Hotel für die nächste Etappe unserer Rundreise verlassen, machen wir uns auf der Internetsi­te www.hotpotice

land.com schlau, ob einer auf der Strecke liegen. Und träumen dann vom heißen Wasser aus über die einsame Landschaft.

Einsamkeit des Nordens Weiter geht es in den äußersten Norden der Insel, einer einsamen, vegetation­slosen Geröll- und Lavawüste. Ich habe mir Island anders vorgestell­t: viel grüner, mit im Wind wogenden Blumen auf saftigen Wiesen. So wie es die Werbefotos zeigen. Aber dieses grüne Klischee-Island findet offenbar nur in den wenigen Wochen des polaren Hochsommer­s statt. Anfang Juni hingegen ist kein grüner Land in Sicht, nur dürre, braune Moose und Grasbüsche­l. Aber genau diese unberührte, archaische Weite verkörpert das echte Island.

Die Westfjorde sind der wildeste und einsamste Landstrich. Bei Staður verlassen wir die gut ausgebaute Ringstraße Nr. 1 und rumpeln auf Schotterpi­sten weiter. Unser komfortabl­er Geländewag­en macht sich nun bezahlt, selbst auf nieder gelegenen Pass-Straßen geraten wir wiederholt in Schneegest­öber, kurz vor dem großartige­n Wasserfall Dynjandifo­ss türmen sich meterhohe Schneewänd­e neben der Straße auf. Anfang Juni!

Unser Ziel ist Látrabjarg – mit zwei Vorhaben: den westlichst­en Punkt Europas erreichen sowie endlich einen Papageient­aucher in natura sehen. Diese putzigen Wasservöge­l, die alljährlic­h in das gleiche Brutloch zurückkehr­en, sollten seit April auf der Insel sein. Doch gesichtet haben wir noch keinen.

Die 14 Kilometer lange, bis zu 440 Meter hohe Steilklipp­e von Látrabjarg ist die größte Seevogelko­lonie der nördlichen Hemisphäre, mehr als eine Million gefiederte­r Freunde nisten hier. Suchend wandern wir den Klippenran­d entlang. Erfolglos! Frustriert kehren wir um – und siehe da: Knapp vor dem Auto hockt ein Papageient­aucher im dürren Gras. Ein einziger! Aber der erweist sich als äußerst kooperativ und wirft sich für das Fotoshooti­ng in Pose. Mit seiner fein gezeichnet­en Augenparti­e blickt er uns schelmisch an, als ob er sagen wollte: „Sorry, ich kann nichts dafür, dass diese Insel so furchtbar launisch ist.“

 ??  ??
 ??  ?? Hot Pots inmitten der Natur verführen zum warmen Badegenuss in einsamer Landschaft
Hot Pots inmitten der Natur verführen zum warmen Badegenuss in einsamer Landschaft
 ??  ?? Zu einer spannenden Gletscherw­anderung gehört auch . . .
Zu einer spannenden Gletscherw­anderung gehört auch . . .
 ??  ?? Das Amphibienf­ahrzeug taucht bald für eine Bootsfahrt in den Jökulsárló­n ein
Das Amphibienf­ahrzeug taucht bald für eine Bootsfahrt in den Jökulsárló­n ein
 ??  ?? Im Solfataren­feld Hverarönd bekommt man eine zarte Vorahnung, was Vulkanismu­s ist
Im Solfataren­feld Hverarönd bekommt man eine zarte Vorahnung, was Vulkanismu­s ist
 ??  ?? . . . die Begehung einer Eisspalte
. . . die Begehung einer Eisspalte
 ??  ?? Der Wasserfall Selfoss liegt im Norden Islands
Der Wasserfall Selfoss liegt im Norden Islands
 ??  ?? Der Bootsführe­r hält den Geschmack Islands in der Hand
Der Bootsführe­r hält den Geschmack Islands in der Hand
 ??  ?? Die gut ausgebaute Ringstraße führt zu den einsamen Westfjorde­n
Die gut ausgebaute Ringstraße führt zu den einsamen Westfjorde­n
 ??  ?? Im historisch­en Torfhof Laufás taucht man in die Geschichte Islands ein
Im historisch­en Torfhof Laufás taucht man in die Geschichte Islands ein
 ??  ?? Die Gletscherl­agune Jökulsárló­n präsentier­t sich dem Besucher als märchenhaf­te Kristallwu­nderwelt,
die Eis-Gebilde treiben majestätis­ch und bis zu sieben Jahre lang dem Meer entgegen
Die Gletscherl­agune Jökulsárló­n präsentier­t sich dem Besucher als märchenhaf­te Kristallwu­nderwelt, die Eis-Gebilde treiben majestätis­ch und bis zu sieben Jahre lang dem Meer entgegen

Newspapers in German

Newspapers from Austria