Lebe lieber ungewöhnlich
Japan. Allein durch Tokio – ein persönlicher Bericht von Kapseln, Kupplern und ganz viel Rohkost
Wir kennen Japan für seine Uniformen, vor allem die Schulmädchen in Anime-Serien sind legendär. Doch dass Besucher beim Schlafen und sogar in der Sauna einheitlich gekleidet sind, das erfährt man erst in einem Kapselhotel. Akkurat gefaltet wartet der blau-weiße Schlaf-Kimono auf Workaholics und neugierige Touristen, die in das zwei Kubikmeter große Schlafgemach kriechen. Es ist im Grunde ein Stockbett, doch entsteht durch die geschlossenen Seiten mit Ausnahme der Einstiegsluke ein Gefühl von Geborgenheit. Nichts stört die Nachtruhe, und aus der Wellnessabteilung mit Dresscode „rosa Kimono“starte ich in den Tag.
Einen sanften Übergang vom europäischen Brauchtum hin zur fernöstlichen Ästhetik erlebe ich im Teien-Museum, dem Art-déco-Palast von Prinzessin Nobuko und Prinz Asaka aus 1933. In Frankreich erlitt der Prinz einen Unfall, und während der jahrelangen Genesung verliebte sich das Paar in den westlichen Stil. Die Portale gestaltete der Glasdesigner René Lalique. Marmor, Reliefs mit Frauenkörpern und verschnörkelte Lampen wirken wie ein Versehen inmitten der Stadt, in der Purismus, Bambus und die Farbe Rot dominieren.
Wirt mit Schmäh Ein Mittel gegen Einsamkeit auf meiner Solo-Reise ist die internationale Couchsurfing-Plattform. Sie ermöglicht es nicht nur, das Sofa und den Alltag von Einheimischen kennenzulernen, sondern man kann auch mit einzelnen Mitgliedern auf Tour gehen. Meinen ersten Kontakt, den Lokalreporter Yosuke, treffe ich an der Station Ikebukuro. „Hast du Hunger?“Ohne Begrüßungsgehabe steuert er auf ein Lokal in einer Neon-beleuchteten Straße zu. Hinter dem Vorhang lächelt uns eines dieser Paare entgegen, die man aus Beiträgen über die Wunder des fernöstlichen (nicht-)Alterns kennt: ein paar Falten, aber strahlend und mit festem Blick. Seit 60 Jahren betreiben sie das Restaurant mit einer Kochinsel, einer Theke und zehn Barhockern. Trotz der Winzigkeit gönnen sie sich den Schmäh, Gäste durch das über dem Grill hängende Mikrofon zu grüßen. Der Senior serviert seinen Signature Dish: in Essig eingelegte rohe Schweineleber.
Gruppen-Blinddate Gokon Zwischen zwei Happen erzählt Yosuke, dass er bald ein „Gokon“veranstaltet. Die meisten Japaner lernen ihre Partner über Gruppen-Blinddates kennen, arrangiert von Bekannten, bei dem Männlein und Weiblein in gleicher Anzahl aufeinandertreffen. Für die Männer zähle Schönheit, Damen fragen nach Position und Einkommen. Als ich mich für den lehrreichen Abend bedanke, entgegnet Yosuke: „Du weißt schon, dass ich dich gerne mit nach Hause nehmen würde?“In meinem Magen verwandelt sich die zarte Leber in einen Feuerdrachen. Beim Hinausstolpern erreicht mich noch der Gruß des fröhlichen Wirtes, und mir wird bewusst, dass ich nichts von der Kultur verstehe, weder Sprache noch Sitten. Da hilft nur eins: der Schutz der Kapsel.
Überall Fisch Ohne Lust auf Konversation nehme ich mir Tsukiji vor, den größten Fischmarkt der Welt. Unter den 450 Sorten Meerestieren sind Jakobsmuscheln, Tinten- und Kugelfische, Seeigel, Riesenkrabben und Thunfisch, deren Augen als Delikatesse gelten. Während Händler mit Gastronomen feilschen, notieren Gehilfen in winzi- gen Kabinen Bestellungen mit Bleistift. Ein Assistent filetiert Aale, und zu den Füßen einer Dame, die ins Zerkleinern eines Thunfischs vertieft ist, liegt dessen fußballgroßer Kopf. Händler flitzen auf speziellen Gefährten durch die Gänge, und wer nicht aufpasst, kann selbst zu Sushi werden.
Thunfisch ist der Treibstoff, der Japan am Laufen hält. Bei „Genki Sushi“bestelle ich über einen Bildschirm, das Essen gleitet vor meine Stäbchen. Viele Tokioter essen alleine, auch beim analogen Sushi vom Band. Sie bestellen beim Sushi-Meister, denn die Portionen auf dem Band fahren stundenlang im Kreis. Wer sich davon bedient, enttarnt sich schnell als Anfänger. Während mich Garnelen im Vorbeifahren anstarren, grüble ich über mein bevorstehendes zweites CouchsurfingErlebnis: eine Übernachtung bei IT-Spezialist Mitsuru. Ob alle Japaner so unverfroren flirten? Andererseits hat mein Gastgeber hervorragende Zeugnisse früherer Besucher, und ich will an das Gute im Menschen glauben.
Fürsorge für Fröstelnde Ich erwache, als die Tür zu meinem Zimmer auf- und eine Wolldecke auf mich hernieder f liegt. Schritte entfernen sich, die Tür geht wieder zu. Später erfahre ich, dass Japaner am Morgen frieren und gegenseitiges Zudecken als Zeichen von Fürsorge verstehen. Mütter decken ihre Kinder zu, und scheinbar gilt der Brauch unter „Fremden“. Als ich durch die Diele schleiche, eröffnet sich mir ein überschwemmtes Bad. Es ist quadratisch, wobei die Badewanne eine Hälfte einnimmt, der Rest lässt Platz für Waschbecken und Toilette. Mitsuru stört das Szenario nicht: „Die Badewanne ist zum Baden da, geduscht wird auf dem Streifen daneben.“Dann verschwindet er in die Arbeit. Mitsuru ist nicht nur ein fürsorglicher, sondern auch ein wortkarger Gastgeber.
Zum Abschied passiere ich den Yoyogi-Park in Shibuya , einem von 23 Stadtbezirken im Osten Tokios, der 1964 als Olympisches Dorf begann und bei den Sommerspielen 2020 wieder zum Einsatz kommen wird. Unterdessen praktizieren Musiker, Ornithologen und Sportler ihre Disziplinen. Dort liegt auch der für Hochzeiten beliebte Meiji-Schrein, einer von Japans 180.000 Andachtsstätten. Den Priestern folgen in stiller Konzentration die Gäste, das Brautpaar teilt sich einen roten Sonnenschirm. Ich sehe die beiden bei einem Gokon-Abend vor mir, angetrunken und voller Hoffnung, endlich ihre bessere Hälfte zu finden. Vielleicht war es so, vielleicht ganz anders. Tokio steckt voller Geheimnisse.