Die Koalition und der „Tag X“
Bald Neuwahlen? Die ÖVP zimmert mit der Flüchtlings-Obergrenze eine Absprungbasis aus der Regierung
Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wall
ner droht, dem Bund jenen Vertrag aufzukündigen, der festschreibt, dass die Bundesländer die Asylwerber unterzubringen haben. Adressat der Drohung: Kanzler Werner Faymann. Dieser dürfe nicht länger an seiner „Willkommenskultur“festhalten und müsse die „unkontrollierte Zuwanderung“beenden, fordert Wallner in den Vorarlberger Nachrichten.
Auf der anderen Seite des Arlbergs sagt Tirols Landeshauptmann Günther Platter in einer Pressekonferenz: Er sei bereit, durch das europäisch wiedervereinte Tirol erneut die Brennergrenze hochzuziehen, falls die Flüchtlinge ihre Route ändern und künftig über Italien kommen sollten. Der neben ihm sitzende Außenminister Sebastian Kurz macht klar, wem die Tiroler den ungeliebten Grenzbalken durch ihr Land zu verdanken hätten: Kanzler Faymann. Dieser habe „von Beginn an eine falsche Flüchtlingspolitik gemacht“.
Außenminister gegen Kanzler – in der Koalition stehen die Zeichen auf Sturm.
Den offenkundig konzertierten Auftritten der ÖVP-Politiker war eine Linienkorrektur der Volkspartei vorangegangen. Spitzengremien und Parlamentsklub schworen sich – Schengen hin oder her – auf dichte Staatsgrenzen ein. „Es müssen deutlich weniger Flüchtlinge werden – bis zum Nullpunkt“, formulierte ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner auf der Klubklausur am vergangenen Donnerstag. Der „Nullpunkt“ist laut Mitterlehner am „Tag X“erreicht – wenn die von der ÖVP geforderte Flüchtlingsobergrenze ausgeschöpft ist. Das könnte bald sein. Der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP) nennt 100.000 als Obergrenze. 90.000 Flüchtlinge sind bereits da. Viel Platz bleibt da nicht mehr.
Über eine solche Obergrenze wird am kommenden Mittwoch beim Asylgipfel der Bundesregierung mit den Landeshauptleuten heftig gestritten werden: ÖVP dafür, SPÖ dagegen.
Die ÖVP gibt sich wild entschlossen, keinen Millimeter zu weichen. „Faymann wird einlenken müssen, denn er wird keinen Koalitionsbruch riskieren wollen“, sagt ein Spitzen-Schwarzer zum KURIER. Ein anderes Mitglied aus dem engeren ÖVP-Führungszirkel raunt, die Sache könne auch „auf ein Ende der Koalition hinauslaufen“. Das Ziel hinter diesen düsteren Andeutungen ist vorerst nicht ganz ersichtlich. Will die ÖVP Druck auf die SPÖ für einen baldigen Flüchtlings-Aufnahmestopp ausüben? Oder will sie in Neuwahlen abspringen?
Dass sie zumindest an einer Absprungbasis zimmert, scheint offenkundig. Ob sie tatsächlich springt, wird wohl auch vom Ausgang der Bundespräsidentenwahlen im April und Mai abhängen.
Falls die ÖVP die Hof burg erobert, wären anschließende Nationalratswahlen für sie verlockend. Sie würde vom Rückenwind einer gewonnenen Wahl profitieren und hätte mit dem Flüchtlingsstopp auch ein zugkräftiges Thema. In der Vergangenheit führte die ÖVP gern Sado-Maso-Wahlkämpfe („Wir müssen Reformen machen, die weh tun“), oder sie verdarb den Wählern die Vorfreude auf die Frühpension. Doch diesmal träfe die ÖVP mit der Forderung nach einem baldigen Asylstopp den Geschmack einer satten Mehrheit.
In Österreich und Deutschland beträgt der Anteil derer, die ihr Land durch den Flüchtlingsandrang überfordert sehen, inzwischen mehr als drei Viertel der Bevölkerung. Mit ihrem Schwenk in der Asylpolitik versucht die ÖVP, diesen anschwellenden Wählermarkt nicht allein der FPÖ zu überlassen. Einer, der von Beginn an die Aufnahme von Flüchtlingen bremste, ist Integrationsminister Sebastian Kurz. Dass der Jungpolitiker damit hilfsbereite Menschen verschreckt, weiß er – und steht dazu. Als Zivilgesellschaft von Mensch zu Mensch zu helfen, sei das eine. Ein Politiker müsse jedoch „eine Strategie haben, Konsequenzen abschätzen und das Ge- samtbild beurteilen“, argumentiert Kurz im kleinen Kreis. 10.000 Personen pro Jahr zu integrieren, sei schwierig genug, nun sei mit der drei- bis fünffachen Zahl zu rechnen.
Auch sei die naheliegende Hilfe nicht gleichzusetzen mit der moralisch hochwertigsten, argumentiert Kurz in ÖVP-internen Zirkeln. Eines seiner Beispiele: Derzeit helfe Österreich hauptsächlich jungen Männern, die stark genug seien, es bis zu uns zu schaffen. Kinder, Frauen, schwächere und noch ärmere Menschen blieben in den Krisenregionen im Elend zurück. Mit derselben Menge Geld könne man in weniger entwickelten Ländern viel mehr Menschen helfen als Flüchtlingen in Österreich.