„Deshalb wollen sie jetzt noch schnell kommen“
Griechenland. Der Bürgermeister der Insel Chios fürchtet die Folgen von EU-Grenzsperren
Offene Kritik an Österreichs neuem Regierungskurs, eine Obergrenze für Asylsuchende einzuziehen, ist Emmanouil Vournous nicht zu entlocken. Dabei könnten der junge, parteiunabhängige Bürgermeister der griechischen Insel Chios und die 50.000 Bewohner des Eilandes letztlich die Auswirkungen der österreichischen Entscheidung besonders stark zu spüren bekommen. Dann nämlich, wenn die Grenzen von Mitteleuropa aus in Richtung Süden immer mehr zugehen und Tausende Flüchtlinge in Griechenland festsitzen.
„Es ist ja nicht Österreich allein, das diesen Weg geht“, sagte Vournous am Donnerstag in Wien zum KURIER. „Viele andere europäische Regierungen zielen in die gleiche Richtung.“Aber, äußert der studierte Architekt doch noch Zweifel, „ich fürchte, das reißt die EU auseinander. Wenn wir als EU das Flüchtlingsproblem lösen wollen, müssen wir es gemeinsam tun. Es kann nicht jeder seine eigenen Regeln machen.“
Österreich zieht die Notbremse – aber auf Chios kommen täglich neue Flüchtlinge an. Bei schlechtem Wetter an die zwanzig pro Tag. Kaum sei das Meer ruhiger, schil- dert Bürgermeister Vournous, „steigen die Zahlen auf bis zu 1000 pro Tag – und das zu dieser Jahreszeit.“
Einer der Gründe, warum die Flüchtlinge auch Stürme bei der lebensgefährlichen Überfahrt von der Türkei nicht scheuen, sagt der Inselchef, „ist die Furcht der Flüchtlinge, dass die EU ihre Politik ändern könnte – und alles gestoppt wird. Und deshalb wollen sie jetzt noch unbedingt schnell kommen.“
Zu wenig Wasser
Für die Bewohner von Chios bedeutet das: Täglich aufs Neue zu Tode erschöpfte und verängstigte Menschen, die versorgt und untergebracht werden müssen. „Freiwillige Helfer arbeiten bei uns oft bis zu 15 Stunden am Tag. Aber trotzdem sind die Herausfor- derungen riesig. Unsere Wasser- und Müllentsorgung ist für so viele Menschen nicht ausgerichtet. Allein das Einsammeln der Massen an Rettungswesten, Booten, Kleidung, die weggeworfen werden, ist schwierig“, sagt Vournous. Und absehbar seien auch die negativen Folgen der Flüchtlingskrise für den Tourismus. „Bei uns auf Chios sind die Buchungen für die nächste Saison stark zurückgegangen.“
Ein Hotspot der EU ist auf Chios im Entstehen. Doch vom ursprünglichen Plan, die Flüchtlinge dort erst zu registrieren und dann an verschiedene EU-Länder zu verteilen, ist man weit entfernt. Wie bisher werden sie nach ein paar Tagen per Fähre weiter nach Piräus oder Nordgriechenland transferiert.
„Trotz aller Schwierigkeiten dürfen wir auf Chios nicht aus den Augen verlieren, dass wir uns in einer abnormalen Situation befinden, die nicht ewig dauern darf “, führt er im KURIER-Interview aus. Aber er fordert auch: „Wenn man die Tragödie mildern will, muss man mit ihr umgehen lernen.“Das heißt aus der Perspektive des Bürgermeisters von Chios mehr Hilfe, mehr Mittel und Flexibilität von der EU. Und er habe den Eindruck, sagte Vournous, „dass die türkische Regierung noch nicht alles unternimmt, um Menschen daran zu hindern in die Boote zu steigen.“
Die Krisenmanager
Als Teilnehmer einer großen, von André Heller initiierten internationalen Bürgermeisterkonferenz (N-O-W Wiener Begegnungen) traf der Gemeindechef von Chios gestern auf zahlreiche ebenfalls von der Flüchtlingskrise betroffene Bürgermeister. Ob im griechischen Chios oder in Jordaniens Hauptstadt Amman – alle teilen Erschöpfung und Sorgen über zunehmende Ressourcennot, aber auch den Frust, zu wenig Hilfe zu bekommen angesichts eines Flüchtlingsstroms, dessen Ende nicht absehbar ist.