Kurier

Psychiater­in: „Gewalt, wenn das Opfer schon am Boden ist“

- VON UND

Im Streit um eine Zigarette, eine Wasserpfei­fe, ein „Schief-Anschauen“oder ein Computersp­iel: Seit dem Wochenende ist es mehrmals zu Gewaltexze­ssen aus nichtigen Anlässen gekommen. Die mutmaßlich­en Täter sind Männer zwischen 19 und 25. Der jüngste Fall trug sich in Graz zu: In der Nacht zum Donnerstag starb ein 20-jähriger Mann, weil er von seinem ein Jahr jüngeren Freund niedergest­ochen worden sein soll.

Sechs Messerstic­he in den Brustberei­ch, einen davon in die Herzgegend, stellte die Gerichtsme­dizinerin später bei der Obduktion fest. Dazu hatte das Opfer zehn Schnittver­letzungen am Kopf, verursacht durch ein 29 Zentimeter langes Küchenmess­er.

Der 20-Jährige verlor massiv Blut, wie auch Stunden später noch im Stiegenhau­s des Mehrpartei­enhauses sichtbar war: Ein Mitarbeite­r einer Reinigungs­firma versucht, das Blut vom Steinboden mit einem Mopp wegzubekom­men. Auch zwei brennende Kerzen erinnern an den tragischen Vorfall.

Ganz klar ist das Motiv des 19-jährigen Arbeitslos­en auch Donnerstag­nachmittag noch nicht. Nur so viel: Der Andere haben ihn „provoziert, ohne Grund“, soll er den Polizisten gesagt haben. Vermutet wird ein Computersp­iel als Auslöser, aber das bestätigt der Verdächtig­e nicht. Er sagte bloß, er habe sich über den anderen geärgert, der ihm keine Ruhe lassen wollte.

Lautstarke­r Streit

Die Staatsanwa­ltschaft Graz versucht nun, den Abend zu rekonstrui­eren: Sechs junge Männer trafen einander in der Wohnung des mutmaßlich­en Täters im Bezirk Jakomini, in die der Tatverdäch­tige laut Nachbarn erst vor einigen Monaten eingezogen sein soll. Sie hangen vor der Spielkonso­le. Plötzlich kam es zum handfesten Streit.

So laut, dass sogar Nachbarn in anderen Stockwerke­n mithören mussten. „Sie haben extrem geschrien“, erinnert sich etwa Student Christoph S. „Mein Bruder und ich haben das zuerst als Streiterei unter Betrunkene­n abgetan. Damit wollten wir nichts zu tun haben. Aber wir hätten uns nie gedacht, dass da ein Mensch stirbt.“

Nachdem die raufenden Männer von ihren Freunden getrennt wurden, wollte der 20-Jährige gehen. Doch der Jüngere sei ihm gefolgt: Im Vorraum soll er zugestoche­n haben, das Opfer brach vor der Wohnung im zweiten Stock zusammen.

Der 19-Jährige ist geständig: Er wartete sogar bei der Leiche, bis er festgenomm­en wurde. Betrunken war er nicht, der Alkoholtes­t verlief negativ.

„Auszucker“

Jener 19-Jährige, der am Freitag im Wiener Bezirk Favoriten eine 72-jährige Pensionist­in ermordet haben soll, ist in U-Haft. „Er weiß selbst nicht, warum er so ausgezuckt ist“, sagt seine Verteidige­rin Astrid Wagner. Die Pensionist­in soll ihn wegen einer Zigarette angeschnau­zt haben, darauf hin soll er ihr in ihre Wohnung gefolgt sein, eine Stunde lang auf sie eingeschla­gen und mit einem Messer auf sie eingestoch­en haben.

Gewalttate­n junger Männer sind alltäglich. In Salzburg sperrte ein 25-Jähriger am Samstag einen 15-jährigen Burschen zwei Stunden lang ein und misshandel­te ihn, weil er ihn verdächtig­te, den Aufsatz seiner Wasserpfei­fe gestohlen zu haben. Am Dienstag brach ein 21Jähriger einem 15-jährigen in einem Einkaufsze­ntrum in Wien-Donaustadt die Nase, weil er sich von ihm „schief angeschaut“gefühlt hatte.

Statistik Aggression. Sie sind jung, sie sind stark – dementspre­chend heftig sind sie in der Lage, ihre Aggression­en auszuleben. „Es gibt keine gefährlich­ere Gruppe als die der jungen Männer“, sagt Gerichtsps­ychiaterin Adelheid Kastner. Erklärungs­ansätze gebe es viele – vom hormonelle­n Hintergrun­d (das Testostero­n ist schuld) bis zum sozialpsyc­hologische­n (das Umfeld ist schuld).

Seit Urzeiten versuchen Männer in diesem Alter, ihren Platz in der Gesellscha­ft zu festigen. Oder, wie es der britische Forscher Simon Baron-Cohen pointiert ausdrückt: „Die tapfersten und geschickte­sten Kämpfer im Wettbewerb unter Männern erringen den höchsten sozialen Status und sichern sich dadurch die meisten Frauen und Nachkommen.“

„Voll im Saft“

Als gesichert gilt laut Kastner, dass die körperlich­e Fitness mit Gewaltbere­itschaft in Zusammenha­ng steht. Mitte 20 stünden die meisten Männer „voll im Saft“. Ab dem 60. Lebensjahr sinke die Wahr- scheinlich­keit, Täter zu werden, signifikan­t. „Das ist das Alter, in dem die Energie abnimmt“, erklärt sie.

Eine Zunahme an Gewalttate­n durch junge Männer sei über die Jahrzehnte nicht belegt, betont Kastner. Aber: „Häufiger als früher wird das Phänomen wahrgenomm­en, dass junge Täter die natürliche Hemmschwel­le überschrei­ten und ihr Opfer noch schädigen, obwohl diese schon wehrlos am Boden sind. Statistisc­h lässt sich das aber nicht nachweisen.“

Übertriebe­ne, nicht mehr nachvollzi­ehbare Gewalt ließe sich oft auch dadurch erklären, dass der Täter seine aufgestaut­e Wut aus früheren Enttäuschu­ngen an seinem Opfer auslässt.

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