Bilder zwischen Macht und Moral
Kunst. Ai Weiwei erregt Gemüter mit einem nachgestellten Foto: Die Strategie hat Tradition – und stößt an Grenzen
Er weiß, wie man die Hebel der globalen Aufmerksamkeitsmaschine bedient, und er hat es wieder getan. Doch diesmal wurde Ai Weiwei nicht so einhellig beklatscht wie sonst: Das Foto, in dem der chinesische Künstler am Strand von Lesbos das erschütternde Bild des ertrunkenen Flüchtlingsbuben Aylan Kurdi nachstellte, sei „schamlos“, befand die deutsche Ai solle sich entschuldigen, erklärte das USKunstmagazin Hyperallergic.
Ai Weiweis Strategie ist dabei keineswegs neu – und ein Blick auf ähnliche Bilder und Kontroversen legt nahe, dass es sich lohnt, genauer hinzusehen und zu differenzieren. Denn das Nachstellen oder „Reenactment“bekannter Bilder kennt viele Varianten, und jede sagt viel über den Umgang mit Bildern in der Gesellschaft aus.
„Idealerweise kann ein Reenactment ein bewussteres Wahrnehmen von Bildern bewirken“, sagt etwa Martin Behr, der mit dem Genre viel Erfahrung hat: Als Teil der Grazer Künstlergruppe G.R.A.M. arbeitet er seit 1998 an Nachinszenierungen von Bildern aus Kunst, Politik und Alltag.
Im Feld der bildenden Kunst, in dem G.R.A.M. sich etwa an den Fotodokumenten der Wiener Aktionisten oder eines Joseph Beuys bedienten, ging es um das Offenlegen von komischen Facetten, die von den Künstlern so nicht beabsichtigt waren, oder auch um das Freilegen der Eitelkeit, die künstlerischen Inszenierungen oft eigen ist. Die Frage „Kann Wiederholung auch eine originelle Leistung sein?“firmiert in der Kunst generell spätestens seit den 1980er-Jahren stark, sie hat eine ganze Kunstrichtung, die sogenannte „Appropriation Art“, hervorgebracht.
Kunst und Politik
Doch verblassen formale und ästhetische Überlegungen denn nicht bei Fotos, die drastische Aspekte der Realität zeigen und massive politische Aussagen in sich tragen? Meist sind es fotografische „Ikonen“, die Künstlern als Vorlagen dienen, Bilder also, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Künstler zapfen das an, was der Wissenschafter Aby Warburg einst „Energiekonserven“nannte – Bildformeln, die über Zeit- und Kulturgrenzen hinweg funktionieren.
In der Fotografie sind „Ikonen“nicht zuletzt durch ihre zeithistorische Brisanz „aufgeladen“: Dorothea Langes Foto einer Wanderarbeiterin („Migrant Mother“, 1936) wurde zum Synonym der Großen Depression, Nick Uts Foto eines Mädchens, das nach einem Napalmangriff flieht (1972), zum Kürzel für die Gräuel des Vietnamkriegs. Dass ein Bild aus der Masse hervorstach, hatte jeweils auch formal-ästhetische Gründe.
„Das Foto wirkt sehr inszeniert, sehr bühnenhaft“, sagt etwa der Künstler Christian Eisenberger über Nick Uts Napalm-Bild. 2008 reproduzierte er die Figuren aus dem Foto lebensgroß und stellte sie im öffentlichen Raum in Glasgow und Wien auf. Nicht überall war das Bild gleich geläufig: In Schottland kam Eisenberger etwa mit einem Vietnam-Veteranen ins Gespräch, in Wien registrierte er kaum Reaktionen.
Distanz oder Nähe?
Der Wunsch, eine Szene stärker zu vergegenwärtigen, kann eine Motivation für eine künstlerische Nachstellung sein – manchmal ist aber gerade Distanz das Ziel. „Es sind Bilder, die gleich- sam nur mit erhobenem Zeigefinger zum Einsatz kommen“, schrieb der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich über die Vorlagen der Gruppe G.R.A.M., die 2001 für ihre Nachstellung eines Erschießungsfotos kritisiert wurde. ,„Innerhalb des Spektrums an Möglichkeiten, die das Wiederholen bietet, hat G.R.A.M. sich für eine Spielart entschieden, die dem Original nicht huldigt (...), sondern es relativiert.“
Produktiv respektlos
G.R.A.M.-Inszenierungen seien oft bewusst billig und undramatisch gestaltet, sagt Künstler Martin Behr dazu: Gerade durch die Differenz zum Original soll man über die Autorität und den Wirklichkeitsgehalt der Bilder nachdenken können.
Behr gibt allerdings zu, dass sich die Strategie des Nachstellens im Selfie-Zeitalter der Ausreizung annähert: „Man muss sich fragen: Ist das noch ein bildkritischer An- satz oder eine Manifestation des eigenen Ichs?“, sagt er.
Ais Scheitern
Auch Ai Weiwei wurde nun Selbstdarstellung vorgeworfen. Doch sie ist nicht das zentrale Problem seines LesbosFotos. Dieses ist gewiss auch im Kontext von Ais Arbeit zu sehen, in dem Wiederholung eine zentrale Rolle spielt
Die Wiederholung des Aylan-Motivs fügt dem Foto aber weder eine kritische Reflexionsebene noch gesteigerte Dringlichkeit hinzu: Das zum fast idyllischen Landschaftsfoto überhöhte Bild bestätigt zunächst nur, dass manche Fotos einfach „funktionieren“und dass in den Händen von Ai Weiwei alles Teil des Betriebssystems Kunst werden kann. Mit seinem Ziel, Kunst und Realität stärker miteinander zu verzahnen, ist der Aktivist diesmal aber gescheitert.