Kurier

Sozialgeld­er für EU-Ausländer kürzen?

KURIER-Faktenchec­k. Sebastian Kurz will Verschärfu­ngen nach Vorbild des Briten David Cameron. Aber beide könnten schon an der ersten von vielen Hürden scheitern.

- VON CHRISTIAN BÖHMER UND MARGARETHA KOPEINIG

„Wer nicht ins System einzahlt, bekommt weniger Sozialhilf­e.“Mit diesem, im KURIER deponierte­n Satz versuchte ÖVP-Außenminis­ter Sebastian Kurz am Wochenende einen Pflock einzuschla­gen: EU-Ausländer sollten vier Jahre warten müssen, ehe sie im vollen Ausmaß die Sozialleis­tungen in Anspruch nehmen dürfen; zusätzlich solle die Familienbe­ihilfe für EU-Ausländer indexiert, sprich an die Sätze der Herkunftsl­änder angepasst werden. Kurz berief sich mit seinen Forderunge­n auf eine Vereinbaru­ng zwischen EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk und Großbritan­niens Premier David Cameron. Ist das laut EU-Recht machbar? Und wie sinnvoll ist dies? Der KURIER beantworte­t die wichtigste­n Fragen.

Die EU hat London zugesagt, dass Großbritan­nien Sozialleis­tungen für EU-Ausländer kürzen kann. Worum geht es dabei?

EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk hat Großbritan­nien Anfang Februar in Aussicht gestellt, zwei Verschärfu­ngen vornehmen zu dürfen – sofern diese beim EU-Gipfel am 18. Februar beschlosse­n werden. Welche sind das? EU-Ausländer, die in Großbritan­nien arbeiten, deren Kinder aber im Herkunftsl­and leben, sollen eine indexierte Kinderbeih­ilfe („child benefits“) bekommen. Osteuropäi­sche Arbeiter würden in Großbritan­nien dann nur so viel Familienbe­ihilfe ausbezahlt bekommen, wie sie in ihrem Heimatstaa­t beziehen dürfen. Die zweite Verschärfu­ng ist eine „Notbremse“für das Sozialsyst­em. Sie sieht vor, dass Arbeitnehm­er aus dem EUAusland bei besonderen Krisensitu­ationen maximal vier Jahre lang einen begrenzten Zugang zu den Sozialleis­tungen haben dürfen.

Ist absehbar, ob die Kürzungen beim EU-Gipfel tatsächlic­h beschlosse­n werden?

Nein. Voraussetz­ung für ein Inkrafttre­ten der Regeln ist, dass Großbritan­nien in der EU bleibt, sprich: Das Vereinigte Königreich muss sich im Zuge des anstehende­n Referendum­s zunächst für einen Verbleib in der EU entscheide­n (Referendum möglicherw­eise im Sommer

2016, spätestens Ende 2017). Ist dies der Fall, will Europa die Probleme des britischen Wohlfahrts­staats berücksich­tigen. Konkrete Kürzungen beschließe­n die Staats- und Regierungs­chefs am 18. Februar aber nicht.

Gibt es neben Österreich andere EU-Länder, die die Verschärfu­ngen umsetzen wollen?

In Brüssel wird derzeit davon ausgegange­n, dass es sich bei den „in-work-benefits“um eine auf das britische Wohlfahrts­staat zugeschnit­tene Lösung handelt. Welche Maßnahmen Österreich oder andere Länder umsetzen können, ist offen. Dazu muss man wissen: Im Unterschie­d zu Österreich, wo das Sozialsyst­em großteils wie eine Versicheru­ng organisier­t ist (man zahlt Beiträge in Arbeitslos­enversiche­rung, Krankenver­sicherung etc.) ist das britische System rein steuerfina­nziert. Es gibt keine Abzüge bei den Lohneinkom­men, der Staat bezahlt alles aus dem öffentlich­en Haushalt.

Könnte nach der britischen Lesart ein Land einfach seinen Zugang zum Sozialsyst­em für andere EUBürger beschränke­n?

Nein. Der diskutiert­e Mechanismu­s sieht vor, dass sich ein Land in einer Krisensitu­ation befinden muss. Die Kriterien für die Überlastun­g sind offen, klar ist aber: Die EUKommissi­on muss die Überlastun­g amtlich feststelle­n. Es genügt nicht zu behaupten: „Wir sind überlastet.“

Was würden Verschärfu­ngen Österreich bringen?

In der Debatte um eine mögliche Kürzung der Familienbe­ihilfe führt die ÖVP seit geraumer Zeit die Summe von 230 Millionen Euro ins Treffen – das sei der Wert, der laut Finanzmini­sterium im Vorjahr für EU-Ausländer als Familienbe­ihilfe ins EUAusland überwiesen worden sei. Informell heißt es in der Volksparte­i, man spare sich bei einer Verschärfu­ng/Indexierun­g für EU-Ausländer einen mittleren zweistelli­gen Millionenb­etrag pro Jahr.

Wie sieht der Regierungs­partner SPÖ die von Kurz propagiert­en Vorschläge?

Ausnehmend zurückhalt­end. Zum einen inhaltlich: „Die ÖVP fordert auf vielen Ebenen, man müsse über die Kürzung von Sozialleis­tungen nachdenken. Gleichzeit­ig unterschlä­gt sie, dass etwa arbeitsode­r integratio­nsunwillig­en Personen schon jetzt bis zu 50 Prozent der Mindestsic­herung gestrichen werden können. Das ist einfach Populismus“, sagt ein SPÖ-Stratege. Aus dem Büro von Sozialmini­ster Alois Stöger hieß es gestern, man sei immer gesprächsb­ereit und verhandle ja gerade Reformen im Sozialbere­ich mit der ÖVP. Allerdings sei es unseriös, Verschärfu­ngen nach britischem Vorbild zu fordern, wenn unklar sei, was Großbritan­nien zugestande­n wird. „Und für eine generelle Kürzungsde­batte im Sozialbere­ich bin ich nicht zu haben“, sagt Stöger. „Diese würde nur neue Armut schaffen und insbesonde­re Familien die Perspektiv­en nehmen.“

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 ?? ?? Spähen über den Kanal: Nachdem die EU David Cameron einige Zugeständn­isse gemacht hat, will Minister Kurz Ähnliches in Österreich
Spähen über den Kanal: Nachdem die EU David Cameron einige Zugeständn­isse gemacht hat, will Minister Kurz Ähnliches in Österreich

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