Kurier

Tausche grünen Tee gegen Asyl

David Mitchell. „Die Knochenuhr­en“sind so perfekt, dass man sich kleine Fehler in der Baukunst wünscht

- VON

Ihm muss sehr fad sein.

Für eine Erzählung, in der Blau schlicht und einfach Blau ist und Grau nur Grau, setzt sich der Brite David Mitchell nicht an seinen Schreibtis­ch.

Bei ihm gibt es das Holzkohleg­rau und das achtzigjäh­rige Grau letzter Haare und das transparen­te Grau von Zikadenflü­geln ...

Blau ist zumindest Kuliblau (wie der Ärmelkanal) oder wie Billardkre­ide (wie der Himmel darüber) oder Blau wie ein hoher Ton.

Allerdings genügt ihm das auch noch nicht.

Für Kindsköpfe

Mitchell muss einen historisch­en Roman schreiben, den Menschen, die historisch­e Romane kaum ertragen können, mit größtem Vergnügen lesen.

Eine Liebesgesc­hichte, die man herzlich umarmt, obwohl man überhaupt keine Lust auf eine Liebesgesc­hichte hat.

(Noch dazu mit der Tochter eines verarmten Samurai, die als Hebamme arbeitet!)

So war das im vorangegan­genen Wälzer „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, und Mitchells Weltbestse­ller „Wolkenatla­s“(2006), mit Tom Hanks verfilmt, war ein Tagebuchro­manzenbrie­fromanscie­ncefiction­thriller. Wie man so sagt. Daran schließt das aktuelle Buch an:

Wer will Mystery haben? Wer braucht Fantasy, um die Welt besser auszuhalte­n? Oder Harry Potter für ältere Kindsköpfe?

„Die Knochenuhr­en“sind alles und, davon abgesehen, sind sie etwas anderes, nämlich realistisc­h.

Erdbeeren werden gepflückt, ein Schiffskap­itän sucht einen ruhigen Platz, um seinen Nasenramme­l loszuwerde­n ... Sehr realistisc­h also. Sechs Teile gibt es, beginnend im Jahr 1984. Etwa ab Seite 400 zieht der Roman in die Zukunft, bis ins Jahr 2043.

Die Erzähler wechseln, im Mittelpunk­t bleibt immer Holly Sykes, die heiratet, ei- ne Tochter bekommt, Blasenkreb­s hat und Hühner im Garten ... ein ganz normales Leben.

Fast ein ganz normales Leben.

Sie ist 15, als wir sie kennenlern­en, und reißt von daheim aus. Der Grund ist erster Liebeskumm­er. Holly marschiert an der Themse entlang, eine Anglerin gibt ihr grünen Tee zu trinken und bittet als Gegenleist­ung um Asyl. Wie meinen? Asyl im Kopf, und zwar ganz hinten, damit die Seelenräub­er sie nicht finden.

Holly sagt zu der alten Dame, die wohl spinnt: „Na klar, jaja.“

Ein schwerer Fehler!

Dekantiere­n

„Fantastisc­he Klumpen“drängen in ihre Lebensgesc­hichte, anfangs geht Mitchell sparsam mit derartigen Elementen um ... ... bis es offen zum Krieg der braven Horologen gegen die Anachorete­n kommt.

Man sollte es nicht für möglich halten: Die Kapelle der Dämmerung muss zerstört werden, und zwar psychosote­risch. Dann kann niemand mehr Seelen dekantiere­n. Alles klar? Bei David Mitchell merkt man erstaunlic­herweise nicht so überdeutli­ch wie manchmal bei Haruki Murakami, dass er trickst.

Dafür hat Mitchell seine Figuren nicht besonders lieb. Er gebraucht sie nur, um seinen Roman wie eine Kathedrale groß und mächtig hinzustell­en. Man wünscht sich, irgendetwa­s möge wackeln bzw. ein paar kleine Löcher haben. Keine Chance.

Knochenuhr­en, das sind übrigens wir Menschen. Die fehlerhaft­en von uns halt.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria