Das Viertel der Entrechteten
Erstes Getto. Vor 500 Jahren wurden Venedigs Juden in ein isoliertes Wohngebiet verbannt – der Begriff „Getto“entstand. Dort lebten sie streng überwacht und beengt. Dennoch war Platz für Querdenker.
Das Viertel unweit des Canale Grande ist durch Mauern abgeriegelt und streng bewacht. Nur einer lockt immer wieder auch nicht-jüdische Adelige, Botschafter und Mönche in die Synagoge: Leone Modena, Rabbiner und Tausendsassa, ist für seine Predigten berühmt. Der redegewandte Mann mit der Glatze und dem langen Bart lebt im „Gheto Vecchio“, einem Gebiet so groß wie 1,5 Fußballfelder. Mehr als 5000 Menschen wohnen hier auf engstem Raum. Ebenso im NachbarViertel, das über eine Brücke erreichbar ist: das „Gheto Nuovo“, entstanden am 29. März 1516. An diesem Tag beschloss der venezianische Senat, alle Juden nach Cannaregio auszusiedeln, wo sich zuvor eine Gießerei befunden hatte. Der Begriff „Getto“bürgerte sich ein (siehe Grafik unten).
Dass Juden im Mittelalter in bestimmten Vierteln wohnten, war nicht neu. Auch andere ethni- sche Gruppierungen, etwa deutsche Kaufleute, lebten in eigenen Quartieren, erklärt Klaus Davidowicz, Professor für Judaistik an der Universität Wien. Dass sie sozial und wirtschaftlich diskriminiert wurden, war aber nicht Usus: „Ihre Situation in Europa war wechselhaft, mal ging es ihnen unter Christen gut, dann wieder unter Muslimen besser. Je nachdem, wie tolerant die jeweilige Gruppe war.“
Kaum Rechte
In der Republik Venedig konnten sie ihren Glauben ausüben, hatten aber keine vollen Bürgerrechte. Sie durften keine Immobilien kaufen, mussten einen gelben Hut oder Kreis auf ihrer Kleidung tragen – laut Dawidowicz die Farbe der Diebe, Huren, Ketzer. Viele arbeiteten als Kreditgeber – einer der wenigen Berufe, den sie ausüben durften, Christen aber nicht. Die katholische Kirche verurteilte das Geschäft als Sünde und die Juden gleich mit. Der Ruf nach einer religiösen Trennung wurde immer lauter. Als die „Liga von Cambrai“, ein Zusammenschluss aus Franzosen, Spaniern, Engländern, Ungarn und dem Papst, 1508 gegen die Republik Krieg führte, verschärfte sich die Lage. Zudem grassierte die Pest, und immer mehr Juden aus Spanien, Portugal und der Levante flüchteten nach Venedig. Die Wut der Bewohner entlud sich über sie – man siedelte sie in ein abgesperrtes Gebiet um.
Dort gab es strikte Regeln: „Jedes Tor muss morgens beim Klang der Marangona-Glocke geöffnet und abends um 24 Uhr durch vier christliche Wachen zugesperrt werden, die dafür von ihren Juden angestellt und bezahlt werden“, steht im Erlass von 1516. Wer nachts außerhalb der Mauern zu sehen war, musste Strafe zahlen oder ins Gefängnis. Nur Ärzte durften hinaus, wenn sie zu ihren Patienten muss- ten. Auch alle anderen konnten ihren Geschäften nachgehen, darunter Schneider, Kesself licker oder Kreditgeber. Auf sie war die Republik nach wie vor angewiesen, sie brauchte Geld für die Kriegskasse.
Kulturelles Leben
„Die Gettoisierung war grundsätzlich eine Zäsur und ein weiterer Schritt zur Trennung und Isolation“, sagt Klaus Davidowicz. „Zuvor waren Juden in vielen Städten in der Renaissance-Bewegung aktiv – von Theater bis Dichtkunst.“Dass sich im venezianischen Getto dennoch ein reiches kulturelles Leben entwickelte, beweist der eingangs erwähnte Leone Modena. Geboren im „Gheto Vecchio“, erhielt er eine umfassende Ausbildung. Er predigte, dichtete, leitete eine Singakademie, gründete eine Scuola und experimentierte als Alchemist. 26 Berufe hat er in seinem Leben ausgeübt, nicht nur aus Jux. In seiner Autobiografie schreibt er, dass er spielsüchtig war und Geld brauchte. Seine gescheiterte Ehe und den Tod seines Sohnes machte er ebenso öffentlich. Damit faszinierte Modena viele Menschen, auch außerhalb des Gettos. Zum Beispiel den britischen Botschafter Sir Henry Wotton. Er bat ihn, ein Buch über jüdische Riten wie Waschung, Kleidung und Gebete – für Nicht-Juden – zu verfassen. Modena tat es, und schrieb auf klärerisch über die Gemeinsamkeiten von Juden und Christen.
Die Öffnung des Gettos von Venedig erlebte er nicht mehr mit. Napoleon Bonaparte wurde von den Juden groß gefeiert, als er 1797 die Stadt eroberte und das erste Getto Europas der Vergangenheit angehörte. Es sollte allerdings nicht das letzte bleiben und war auch bei Weitem nicht das schlimmste, wie sich später im 20. Jahrhundert zeigen sollte.