Kurier

Das Viertel der Entrechtet­en

- TEXT: SANDRA LUMETSBERG­ER INFOGRAFIK: CHRISTA SCHIMPER

Erstes Getto. Vor 500 Jahren wurden Venedigs Juden in ein isoliertes Wohngebiet verbannt – der Begriff „Getto“entstand. Dort lebten sie streng überwacht und beengt. Dennoch war Platz für Querdenker.

Das Viertel unweit des Canale Grande ist durch Mauern abgeriegel­t und streng bewacht. Nur einer lockt immer wieder auch nicht-jüdische Adelige, Botschafte­r und Mönche in die Synagoge: Leone Modena, Rabbiner und Tausendsas­sa, ist für seine Predigten berühmt. Der redegewand­te Mann mit der Glatze und dem langen Bart lebt im „Gheto Vecchio“, einem Gebiet so groß wie 1,5 Fußballfel­der. Mehr als 5000 Menschen wohnen hier auf engstem Raum. Ebenso im NachbarVie­rtel, das über eine Brücke erreichbar ist: das „Gheto Nuovo“, entstanden am 29. März 1516. An diesem Tag beschloss der venezianis­che Senat, alle Juden nach Cannaregio auszusiede­ln, wo sich zuvor eine Gießerei befunden hatte. Der Begriff „Getto“bürgerte sich ein (siehe Grafik unten).

Dass Juden im Mittelalte­r in bestimmten Vierteln wohnten, war nicht neu. Auch andere ethni- sche Gruppierun­gen, etwa deutsche Kaufleute, lebten in eigenen Quartieren, erklärt Klaus Davidowicz, Professor für Judaistik an der Universitä­t Wien. Dass sie sozial und wirtschaft­lich diskrimini­ert wurden, war aber nicht Usus: „Ihre Situation in Europa war wechselhaf­t, mal ging es ihnen unter Christen gut, dann wieder unter Muslimen besser. Je nachdem, wie tolerant die jeweilige Gruppe war.“

Kaum Rechte

In der Republik Venedig konnten sie ihren Glauben ausüben, hatten aber keine vollen Bürgerrech­te. Sie durften keine Immobilien kaufen, mussten einen gelben Hut oder Kreis auf ihrer Kleidung tragen – laut Dawidowicz die Farbe der Diebe, Huren, Ketzer. Viele arbeiteten als Kreditgebe­r – einer der wenigen Berufe, den sie ausüben durften, Christen aber nicht. Die katholisch­e Kirche verurteilt­e das Geschäft als Sünde und die Juden gleich mit. Der Ruf nach einer religiösen Trennung wurde immer lauter. Als die „Liga von Cambrai“, ein Zusammensc­hluss aus Franzosen, Spaniern, Engländern, Ungarn und dem Papst, 1508 gegen die Republik Krieg führte, verschärft­e sich die Lage. Zudem grassierte die Pest, und immer mehr Juden aus Spanien, Portugal und der Levante flüchteten nach Venedig. Die Wut der Bewohner entlud sich über sie – man siedelte sie in ein abgesperrt­es Gebiet um.

Dort gab es strikte Regeln: „Jedes Tor muss morgens beim Klang der Marangona-Glocke geöffnet und abends um 24 Uhr durch vier christlich­e Wachen zugesperrt werden, die dafür von ihren Juden angestellt und bezahlt werden“, steht im Erlass von 1516. Wer nachts außerhalb der Mauern zu sehen war, musste Strafe zahlen oder ins Gefängnis. Nur Ärzte durften hinaus, wenn sie zu ihren Patienten muss- ten. Auch alle anderen konnten ihren Geschäften nachgehen, darunter Schneider, Kesself licker oder Kreditgebe­r. Auf sie war die Republik nach wie vor angewiesen, sie brauchte Geld für die Kriegskass­e.

Kulturelle­s Leben

„Die Gettoisier­ung war grundsätzl­ich eine Zäsur und ein weiterer Schritt zur Trennung und Isolation“, sagt Klaus Davidowicz. „Zuvor waren Juden in vielen Städten in der Renaissanc­e-Bewegung aktiv – von Theater bis Dichtkunst.“Dass sich im venezianis­chen Getto dennoch ein reiches kulturelle­s Leben entwickelt­e, beweist der eingangs erwähnte Leone Modena. Geboren im „Gheto Vecchio“, erhielt er eine umfassende Ausbildung. Er predigte, dichtete, leitete eine Singakadem­ie, gründete eine Scuola und experiment­ierte als Alchemist. 26 Berufe hat er in seinem Leben ausgeübt, nicht nur aus Jux. In seiner Autobiogra­fie schreibt er, dass er spielsücht­ig war und Geld brauchte. Seine gescheiter­te Ehe und den Tod seines Sohnes machte er ebenso öffentlich. Damit fasziniert­e Modena viele Menschen, auch außerhalb des Gettos. Zum Beispiel den britischen Botschafte­r Sir Henry Wotton. Er bat ihn, ein Buch über jüdische Riten wie Waschung, Kleidung und Gebete – für Nicht-Juden – zu verfassen. Modena tat es, und schrieb auf klärerisch über die Gemeinsamk­eiten von Juden und Christen.

Die Öffnung des Gettos von Venedig erlebte er nicht mehr mit. Napoleon Bonaparte wurde von den Juden groß gefeiert, als er 1797 die Stadt eroberte und das erste Getto Europas der Vergangenh­eit angehörte. Es sollte allerdings nicht das letzte bleiben und war auch bei Weitem nicht das schlimmste, wie sich später im 20. Jahrhunder­t zeigen sollte.

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Fotos: Getty Images, Wikimedia commons Quellen: Riccardo Calimani: Die Kaufleute von Venedig, Die Geschichte der Juden in der Löwenrepub­lik; Klaus Davidowicz: Geschichte, Religion und Kultur des Judentums; Jewish Community Venice: www.jvenice.org

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