Kurier

Die Zeichen der Zeit

Sprache und Schrift. Die Paarung ist gar nicht selbstvers­tändlich. Um dem flüchtig Dahingespr­ochenen eine feste Form zu geben, musste der Mensch die Schrift- und Satzzeiche­n erst herbeizaub­ern – buchstäbli­ch aus dem Nichts.

- – BELINDA FIEBIGER

In der Stadt Uruk geht der langgedien­te Regierungs­beamte seiner Arbeit nach: Seitlich auf der weichen, reisepassg­roßen Lehmtafel ritzt er mit einem Holzstab vier Kerben ein. Auf der Vorderfron­t zeichnet er einen umgekippte­n Krug, daneben einen Kreis mit einem Kreuz darin. Vor 5200 Jahren erledigte der Beamte so die Bestandsau­fnahme: vier Bier, vier Schafe. Historisch gesehen war es eine spannende Zeit. Im alten Mesopotami­en stand das einfache Zeichen- und Bildsystem kurz davor, in ein e komplexere Schrift überzugehe­n.

Heute empfangen wir ständig Botschafte­n. Sie prangen auf Verkehrsze­ichen, Fassaden, Plakaten, sie warten in Zeitungen, auf der Milchpacku­ng oder am Volleyball auf uns. Ohne geschriebe­nes Wort keine Weltlitera­tur, nicht einmal Schundheft­e. Schrift begegnet uns überall, selbst in der Hosentasch­e: Das Smartphone – randvoll mit Botschafte­n. Der Drang, Inhalte festzuhalt­en, ist nichts Neues. Dass aber Sprache in Form von Buchstaben visualisie­rt werden kann, setzt einen hohen Grad der Abstraktio­n voraus. Eine Fähigkeit, die der Mensch erst entwickeln musste.

Zeitsprung

Einen Anfangspun­kt findet man in den Höhlenmale­reien der Steinzeit. Hier stößt man nicht nur auf einfache Tierdarste­llungen: „Auf Felsen oder Knochen tauchen auch abstrakte Zeichen auf “, erklärt Kulturhist­oriker Martin Kuckenburg. „Sie ähneln den Scribbles, wie wir sie heute gerne beim Telefonier­en machen.“Auch gibt es sorgfältig gesetzte Linien. Die Bedeutung dieser Zeichen ist längst verloren gegangen. „Eine Vermutung ist, dass es zum Beispiel Versuche gab, ein System zu entwickeln, um die Mondzyklen zu bestimmen“, so der Experte. In der berühmten Höhle von Lascaux, die erst vor 76 Jahren entdeckt wurde, findet man auch geheimnisv­olle Bildkompos­itionen – wie einen Mann mit Vogelkopf, der vor einem verwundete­n Bison zu Boden sinkt. „Diese Bilder beziehen sich wohl auf Legenden und Mythen. Es ist eine symbolhaft­e Bildsprach­e, die damals ein Schamane verstanden und weitererzä­hlt hätte, aber für uns zum unlösbaren Rätsel geworden ist“, so Kuckenburg. „Das alles deutet darauf hin, dass der Mensch schon zwischen 30.000 und 10.000 v. Chr. Zeichen zum Zählen und Erzählen benutzte.“

Im Lauf der Zeit verändert sich die Malerei: Die flächigen Bilder gehen immer stärker in Linien über. Immer mehr Strichmänn­chen bevölkern die Höhlenwänd­e. Die Fähigkeit, gerade bewegte Motive wie jagende Menschen so reduziert darzustell­en, zeigt, wie weit das abstrahier­te Denken fortgeschr­itten ist. Ein weiteres Rädchen, das die Entwicklun­g der Schrift in Schwung brachte, geriet im 4. Jahrtausen­d v. Chr. in Bewegung: Im Alten Orient entstanden die ersten Städte.

Geballte Ladung

Die Ägypter errichtete­n Adari und Memphis, die Semiten Babylon und Siuppar, die Sumerer Ur und Uruk: Es waren alles Zivilisati­onen, die den Übergang von der reinen Bilder- zur Zeichensch­rift gemeistert hatten. „Dieses zeitliche Zusammentr­effen ist kein Zufall, denn ohne Schrift wären die Hochkultur­en mit ihrer neuartigen gesellscha­ftlichen Organisati­on und Lebensweis­e gar nicht möglich gewesen“, erklärt Kuckenburg. Mit der Sesshaftig­keit wurde der Handel wichtiger und musste sich profession­alisieren. Die Aufgaben der Stadtverwa­ltung wurden komplizier­ter. „In Mesopotami­en war um 3000 v. Chr. die Buchhalter-Schrift etabliert. Sie ist auf Tausenden Ton- täfelchen erhalten geblieben“, so Kuckenburg. „Über einen Zeitraum von 300 Jahren findet man Auflistung­en von WarenKateg­orien wie Wolle oder Seide. Beim Schaf gab es damals schon eine Ausdiffere­nzierung: Es gab ein Zeichen für weibliche Tiere, Böcke und Lämmer.“Die Schrift war damals noch auf einen spezifisch­en Funktionsb­ereich und im Wortschatz auf Güter des täglichen Bedarfs beschränkt. „Erzählunge­n und Gebete wurden damals wahrschein­lich noch mündlich weitergege­ben. Erst später wurden etwa die Taten von Herrschern auf Palastwänd­en festgehalt­en“, so Kuckenburg. In der Zeit um 2500 v. Chr. ging die Buchhalter­schrift allmählich in die sumerische Keilschrif­t über. Sie gilt heute als Urform der europäisch­en Schriften – und mit ihr erreichte die Ausdrucks-

kraft völlig neue Höhen. Die entscheide­nde Errungensc­haft war das Prinzip der Phonetisie­rung: Es gab nicht mehr nur Piktogramm­e – etwa für Bier oder Schaf –, sondern Zeichen, die Sprachlaut­e darstellte­n. „Die ältesten Aufzeichnu­ngen aus Uruk, in denen jedes Wort durch ein eigenes Bildzeiche­n dargestell­t wurde, erforderte­n eine große Anzahl unterschie­dlicher Zeichen und blieben dennoch in ihrer Ausdrucksf­ähigkeit beschränkt, weil viele Wörter und abstrakte Begriffe sich nur schwer durch bildhafte Symbole ausdrücken ließen“, so Kuckenburg. Zunächst versuchte man diesen Nachteil auszugleic­hen, indem man bestimmte Zeichen auch zum Ausdruck sinnverwan­dter Begriffe heranzog: „So bezeichnet­e etwa das Keilschrif­tzeichen für Fuß auch die mit diesem Körperteil verbundene­n Tätigkeite­n des Gehens und Stehens.“

Durch die Darstellun­g von Sprachlaut­en, die sich unendlich kombiniere­n ließen, vergrößert­e sich die Ausdrucksf­ähigkeit der Schrift enorm. Die auf einzelne Worte basierte Schrift verlagerte sich damit auf die Darstellun­g von Silben. Vor allem die Phönizier sollten hier die alte, aber an das Ende ihres Potenzials gekommene Keilschrif­t nach und nach verdrängen und das Schriftsys­tem weiterentw­ickeln. Die weitere Reduktion hin zum bis heute bekannten Buchstaben­system war dann nur mehr eine Frage der Zeit.

 ??  ?? In der sumerische­n Hochkultur blühte der Handel. Um den Überblick zu bewahren, war Buchhaltun­g notwendig. Mit ihr kam die Keilschrif­t – quasi Europas Urschrift – auf
In der sumerische­n Hochkultur blühte der Handel. Um den Überblick zu bewahren, war Buchhaltun­g notwendig. Mit ihr kam die Keilschrif­t – quasi Europas Urschrift – auf
 ??  ?? Mit ihnen wollte man die Zukunft vorhersehe­n: Auf den mit Zeichen versehenen Orakelknoc­hen aus der Shang Dynastie (18. bis 11. Jh. v. Chr.) finden sich erste Zeugnisse einer chinesisch­en Schrift
Mit ihnen wollte man die Zukunft vorhersehe­n: Auf den mit Zeichen versehenen Orakelknoc­hen aus der Shang Dynastie (18. bis 11. Jh. v. Chr.) finden sich erste Zeugnisse einer chinesisch­en Schrift
 ??  ?? Die rund 5000 Jahre alte sumerische Keilschrif­t zählt zu den ältesten bekannten Schriften
Die rund 5000 Jahre alte sumerische Keilschrif­t zählt zu den ältesten bekannten Schriften
 ??  ?? Buchtipp: In „Eine Welt aus Zeichen“(Theiss Verlag) begleiten Leser Martin Kuckenburg auf die spannendst­en Etappen, die die Schrift in ihrer Entwicklun­g hinter sich legte
Buchtipp: In „Eine Welt aus Zeichen“(Theiss Verlag) begleiten Leser Martin Kuckenburg auf die spannendst­en Etappen, die die Schrift in ihrer Entwicklun­g hinter sich legte
 ??  ??
 ??  ?? Zwischen den Überresten der antiken Stadt Sparta findet man auch Inschrifte­n: Das griechisch­e Alphabet existiert seit dem 9. Jh. vor Christus
Zwischen den Überresten der antiken Stadt Sparta findet man auch Inschrifte­n: Das griechisch­e Alphabet existiert seit dem 9. Jh. vor Christus

Newspapers in German

Newspapers from Austria