Die Zeichen der Zeit
Sprache und Schrift. Die Paarung ist gar nicht selbstverständlich. Um dem flüchtig Dahingesprochenen eine feste Form zu geben, musste der Mensch die Schrift- und Satzzeichen erst herbeizaubern – buchstäblich aus dem Nichts.
In der Stadt Uruk geht der langgediente Regierungsbeamte seiner Arbeit nach: Seitlich auf der weichen, reisepassgroßen Lehmtafel ritzt er mit einem Holzstab vier Kerben ein. Auf der Vorderfront zeichnet er einen umgekippten Krug, daneben einen Kreis mit einem Kreuz darin. Vor 5200 Jahren erledigte der Beamte so die Bestandsaufnahme: vier Bier, vier Schafe. Historisch gesehen war es eine spannende Zeit. Im alten Mesopotamien stand das einfache Zeichen- und Bildsystem kurz davor, in ein e komplexere Schrift überzugehen.
Heute empfangen wir ständig Botschaften. Sie prangen auf Verkehrszeichen, Fassaden, Plakaten, sie warten in Zeitungen, auf der Milchpackung oder am Volleyball auf uns. Ohne geschriebenes Wort keine Weltliteratur, nicht einmal Schundhefte. Schrift begegnet uns überall, selbst in der Hosentasche: Das Smartphone – randvoll mit Botschaften. Der Drang, Inhalte festzuhalten, ist nichts Neues. Dass aber Sprache in Form von Buchstaben visualisiert werden kann, setzt einen hohen Grad der Abstraktion voraus. Eine Fähigkeit, die der Mensch erst entwickeln musste.
Zeitsprung
Einen Anfangspunkt findet man in den Höhlenmalereien der Steinzeit. Hier stößt man nicht nur auf einfache Tierdarstellungen: „Auf Felsen oder Knochen tauchen auch abstrakte Zeichen auf “, erklärt Kulturhistoriker Martin Kuckenburg. „Sie ähneln den Scribbles, wie wir sie heute gerne beim Telefonieren machen.“Auch gibt es sorgfältig gesetzte Linien. Die Bedeutung dieser Zeichen ist längst verloren gegangen. „Eine Vermutung ist, dass es zum Beispiel Versuche gab, ein System zu entwickeln, um die Mondzyklen zu bestimmen“, so der Experte. In der berühmten Höhle von Lascaux, die erst vor 76 Jahren entdeckt wurde, findet man auch geheimnisvolle Bildkompositionen – wie einen Mann mit Vogelkopf, der vor einem verwundeten Bison zu Boden sinkt. „Diese Bilder beziehen sich wohl auf Legenden und Mythen. Es ist eine symbolhafte Bildsprache, die damals ein Schamane verstanden und weitererzählt hätte, aber für uns zum unlösbaren Rätsel geworden ist“, so Kuckenburg. „Das alles deutet darauf hin, dass der Mensch schon zwischen 30.000 und 10.000 v. Chr. Zeichen zum Zählen und Erzählen benutzte.“
Im Lauf der Zeit verändert sich die Malerei: Die flächigen Bilder gehen immer stärker in Linien über. Immer mehr Strichmännchen bevölkern die Höhlenwände. Die Fähigkeit, gerade bewegte Motive wie jagende Menschen so reduziert darzustellen, zeigt, wie weit das abstrahierte Denken fortgeschritten ist. Ein weiteres Rädchen, das die Entwicklung der Schrift in Schwung brachte, geriet im 4. Jahrtausend v. Chr. in Bewegung: Im Alten Orient entstanden die ersten Städte.
Geballte Ladung
Die Ägypter errichteten Adari und Memphis, die Semiten Babylon und Siuppar, die Sumerer Ur und Uruk: Es waren alles Zivilisationen, die den Übergang von der reinen Bilder- zur Zeichenschrift gemeistert hatten. „Dieses zeitliche Zusammentreffen ist kein Zufall, denn ohne Schrift wären die Hochkulturen mit ihrer neuartigen gesellschaftlichen Organisation und Lebensweise gar nicht möglich gewesen“, erklärt Kuckenburg. Mit der Sesshaftigkeit wurde der Handel wichtiger und musste sich professionalisieren. Die Aufgaben der Stadtverwaltung wurden komplizierter. „In Mesopotamien war um 3000 v. Chr. die Buchhalter-Schrift etabliert. Sie ist auf Tausenden Ton- täfelchen erhalten geblieben“, so Kuckenburg. „Über einen Zeitraum von 300 Jahren findet man Auflistungen von WarenKategorien wie Wolle oder Seide. Beim Schaf gab es damals schon eine Ausdifferenzierung: Es gab ein Zeichen für weibliche Tiere, Böcke und Lämmer.“Die Schrift war damals noch auf einen spezifischen Funktionsbereich und im Wortschatz auf Güter des täglichen Bedarfs beschränkt. „Erzählungen und Gebete wurden damals wahrscheinlich noch mündlich weitergegeben. Erst später wurden etwa die Taten von Herrschern auf Palastwänden festgehalten“, so Kuckenburg. In der Zeit um 2500 v. Chr. ging die Buchhalterschrift allmählich in die sumerische Keilschrift über. Sie gilt heute als Urform der europäischen Schriften – und mit ihr erreichte die Ausdrucks-
kraft völlig neue Höhen. Die entscheidende Errungenschaft war das Prinzip der Phonetisierung: Es gab nicht mehr nur Piktogramme – etwa für Bier oder Schaf –, sondern Zeichen, die Sprachlaute darstellten. „Die ältesten Aufzeichnungen aus Uruk, in denen jedes Wort durch ein eigenes Bildzeichen dargestellt wurde, erforderten eine große Anzahl unterschiedlicher Zeichen und blieben dennoch in ihrer Ausdrucksfähigkeit beschränkt, weil viele Wörter und abstrakte Begriffe sich nur schwer durch bildhafte Symbole ausdrücken ließen“, so Kuckenburg. Zunächst versuchte man diesen Nachteil auszugleichen, indem man bestimmte Zeichen auch zum Ausdruck sinnverwandter Begriffe heranzog: „So bezeichnete etwa das Keilschriftzeichen für Fuß auch die mit diesem Körperteil verbundenen Tätigkeiten des Gehens und Stehens.“
Durch die Darstellung von Sprachlauten, die sich unendlich kombinieren ließen, vergrößerte sich die Ausdrucksfähigkeit der Schrift enorm. Die auf einzelne Worte basierte Schrift verlagerte sich damit auf die Darstellung von Silben. Vor allem die Phönizier sollten hier die alte, aber an das Ende ihres Potenzials gekommene Keilschrift nach und nach verdrängen und das Schriftsystem weiterentwickeln. Die weitere Reduktion hin zum bis heute bekannten Buchstabensystem war dann nur mehr eine Frage der Zeit.