Haben wir schon ausgeschrieben?
Expertenmeinung. Mit der Hand schreiben oder tippen – über Auswirkungen und Alternativen zur Schreibschrift
Das Blatt hat sich gewendet – die Schreibschrift, eine Kulturtechnik, die über Jahrhunderte gepflegt wurde, gilt als Auslaufmodell. Das Tippen auf Tastaturen, Tablets und Smartphones schreibt ein neues Zeitalter.
Über die Sinnhaftigkeit der Schreibschrift wird deshalb seit Längerem diskutiert. In Finnland will man sie an den Schulen abschaffen. Doch welche Auswirkungen hat es beispielsweise auf unsere Gedächtnisleistung, wenn wir nicht mehr mit der Hand schreiben? Wollen doch Studien belegen, dass dadurch gewisse Hirnareale verkümmern und damit auch die Merkfähigkeit sinkt. Für Univ.-Prof. Jürgen Sandkühler sind diese Studien nicht haltbar. „Ich halte die Diskussion um die Handschrift für sehr übertrieben. Dass Hirnareale verkümmern, wenn man nicht schreibt, ist Blödsinn. Vom entwicklungsneurobiologischen Standpunkt her ist die Handschrift vernachlässigbar.“Die Merkfähigkeit könne man auch anders verbessern. Beispielsweise durch lautes Nachsprechen oder durch Sport. Besonders wichtig ist auch die Motivation. „Wenn ich etwas als sinnvoll erachte, werde ich es mir auch leichter merken. Andererseits kann ich beim Auswendiglernen dem Gehirn vorgaukeln, eine bestimmte In- formation wäre wichtig, weil ich sie so oft wiederhole“, meint Sandkühler. Zudem sei es in einer zunehmend digitalisierten Welt Kindern immer schwerer erklärbar, auf das Schreiben mit der Hand zu bestehen.
Reform-Wunsch
Für den Leiter des Schreibmotorikinstituts in Heroldsberg, Dr. Christian Marquardt, verhält sich die Sache naturgemäß etwas anders. „Schreiben zu ler- nen ist ein ganzheitlicher Prozess. Dabei sind mehr Gehirnareale aktiviert als beim Tippen. Zudem werden kognitive Fähigkeiten gefördert.“Wenn es nach ihm geht, sollte es keine Für-oder-Wider-Diskussion geben, sondern digitale Medien und Handschrift eine Koexistenz eingehen, sich ergänzen. „Schreibschrift sollte reformiert und vereinfacht werden. Wir haben Untersuchungen darüber gemacht, was einen guten, erwachsenen Schreiber ausmacht“, so Marquardt. Analysiert wurden sowohl Schriftbild, als auch der Bewegungsablauf. „Die Hand befindet sich dabei in einer ständigen, rhythmischen Auf- und Ab-Bewegung mit hoher Frequenz. Dabei vereinfachen gute Schreiber zum Beispiel durch „Luftsprünge“. Da gilt es herauszufinden, wie diese organisiert sind. Oder wie vereinfacht man komplexe Buchstaben, wie das „g“oder solche mit Aufstrichen“, so der Experte. Sein Ziel ist es, Kindern gleich eine vereinfachte Form des Schreibens beizubringen. Umfragen zufolge ist die Freude über das Schreibenlernen spätestens in der zweiten Klasse verschwunden, weil der Prozess zu langwierig ist. „Es geht mir darum, die motorischen Fähigkeiten schneller zu aktivieren und weniger um die Genauigkeit des Alphabetes“meint der Experte.
Schreibschrift zu beherrschen hat, da sind sich beide Experten einig, gegenüber dem Tippen einen Vorteil. Beim Mitschreiben von Vorträgen etwa. Während ungeübte Tipper zu abgelenkt sind, um gut mitzuschreiben, neigen geübte dazu, wortwörtlich mitzutippen. Beide können beim Schreiben nicht über den Sinn nachdenken. „Schreibt man mit der Hand, läuft im Gehirn ein Filter mit, der gleich das Wesentliche erfasst“, so Sandkühler.
Und dann wäre da noch etwas. „Schreiben ist Ausdruck von Persönlichkeit. Ich habe kürzlich meine Tagebücher einer Indienreise von vor 30 Jahren gefunden. Das hat einen ganz emotionalen Bezug. Eine Datei hätte ich mir nicht mehr angesehen.
„Es geht darum, die motorischen Fähigkeiten schneller zu aktivieren.“Christian Marquardt, Schreibmotorikinstitut in Heroldsberg „Dass Hirnareale verkümmern, wenn man nicht mit der Hand schreibt, ist Blödsinn.“Univ.Prof. Dr. Jürgen Sandkühler vom Zentrum für Hirnforschung an der MedUni Wien