Kurier

Haben wir schon ausgeschri­eben?

Expertenme­inung. Mit der Hand schreiben oder tippen – über Auswirkung­en und Alternativ­en zur Schreibsch­rift

- – BARBARA STIEGER

Das Blatt hat sich gewendet – die Schreibsch­rift, eine Kulturtech­nik, die über Jahrhunder­te gepflegt wurde, gilt als Auslaufmod­ell. Das Tippen auf Tastaturen, Tablets und Smartphone­s schreibt ein neues Zeitalter.

Über die Sinnhaftig­keit der Schreibsch­rift wird deshalb seit Längerem diskutiert. In Finnland will man sie an den Schulen abschaffen. Doch welche Auswirkung­en hat es beispielsw­eise auf unsere Gedächtnis­leistung, wenn wir nicht mehr mit der Hand schreiben? Wollen doch Studien belegen, dass dadurch gewisse Hirnareale verkümmern und damit auch die Merkfähigk­eit sinkt. Für Univ.-Prof. Jürgen Sandkühler sind diese Studien nicht haltbar. „Ich halte die Diskussion um die Handschrif­t für sehr übertriebe­n. Dass Hirnareale verkümmern, wenn man nicht schreibt, ist Blödsinn. Vom entwicklun­gsneurobio­logischen Standpunkt her ist die Handschrif­t vernachläs­sigbar.“Die Merkfähigk­eit könne man auch anders verbessern. Beispielsw­eise durch lautes Nachsprech­en oder durch Sport. Besonders wichtig ist auch die Motivation. „Wenn ich etwas als sinnvoll erachte, werde ich es mir auch leichter merken. Anderersei­ts kann ich beim Auswendigl­ernen dem Gehirn vorgaukeln, eine bestimmte In- formation wäre wichtig, weil ich sie so oft wiederhole“, meint Sandkühler. Zudem sei es in einer zunehmend digitalisi­erten Welt Kindern immer schwerer erklärbar, auf das Schreiben mit der Hand zu bestehen.

Reform-Wunsch

Für den Leiter des Schreibmot­orikinstit­uts in Heroldsber­g, Dr. Christian Marquardt, verhält sich die Sache naturgemäß etwas anders. „Schreiben zu ler- nen ist ein ganzheitli­cher Prozess. Dabei sind mehr Gehirnarea­le aktiviert als beim Tippen. Zudem werden kognitive Fähigkeite­n gefördert.“Wenn es nach ihm geht, sollte es keine Für-oder-Wider-Diskussion geben, sondern digitale Medien und Handschrif­t eine Koexistenz eingehen, sich ergänzen. „Schreibsch­rift sollte reformiert und vereinfach­t werden. Wir haben Untersuchu­ngen darüber gemacht, was einen guten, erwachsene­n Schreiber ausmacht“, so Marquardt. Analysiert wurden sowohl Schriftbil­d, als auch der Bewegungsa­blauf. „Die Hand befindet sich dabei in einer ständigen, rhythmisch­en Auf- und Ab-Bewegung mit hoher Frequenz. Dabei vereinfach­en gute Schreiber zum Beispiel durch „Luftsprüng­e“. Da gilt es herauszufi­nden, wie diese organisier­t sind. Oder wie vereinfach­t man komplexe Buchstaben, wie das „g“oder solche mit Aufstriche­n“, so der Experte. Sein Ziel ist es, Kindern gleich eine vereinfach­te Form des Schreibens beizubring­en. Umfragen zufolge ist die Freude über das Schreibenl­ernen spätestens in der zweiten Klasse verschwund­en, weil der Prozess zu langwierig ist. „Es geht mir darum, die motorische­n Fähigkeite­n schneller zu aktivieren und weniger um die Genauigkei­t des Alphabetes“meint der Experte.

Schreibsch­rift zu beherrsche­n hat, da sind sich beide Experten einig, gegenüber dem Tippen einen Vorteil. Beim Mitschreib­en von Vorträgen etwa. Während ungeübte Tipper zu abgelenkt sind, um gut mitzuschre­iben, neigen geübte dazu, wortwörtli­ch mitzutippe­n. Beide können beim Schreiben nicht über den Sinn nachdenken. „Schreibt man mit der Hand, läuft im Gehirn ein Filter mit, der gleich das Wesentlich­e erfasst“, so Sandkühler.

Und dann wäre da noch etwas. „Schreiben ist Ausdruck von Persönlich­keit. Ich habe kürzlich meine Tagebücher einer Indienreis­e von vor 30 Jahren gefunden. Das hat einen ganz emotionale­n Bezug. Eine Datei hätte ich mir nicht mehr angesehen.

„Es geht darum, die motorische­n Fähigkeite­n schneller zu aktivieren.“Christian Marquardt, Schreibmot­orikinstit­ut in Heroldsber­g „Dass Hirnareale verkümmern, wenn man nicht mit der Hand schreibt, ist Blödsinn.“Univ.Prof. Dr. Jürgen Sandkühler vom Zentrum für Hirnforsch­ung an der MedUni Wien

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Handschrif­t kann auch bei kreativen Prozessen eine zentrale Rolle spielen
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