Kurier

Der Weltkampf um die Ein-Cent-Jobs

Crowdworki­ng. Das digitale Zeitalter lässt Auftragneh­mer weltweit um Aufträge wetteifern – mit extremen Folgen

- VON ANITA STAUDACHER UND HERMANN SILEITSCH-PARZER beiten in der Masse) (Menschenwo­lke) (Ar-

Ein Schwindler aus Wien stand Pate. 1769 verblüffte Wolfgang von Kempelen den Hofstaat von Kaiserin Maria Theresia mit seinem schachspie­lenden Automaten. Eine Sensation, aber getürkt: Bedient hat den Roboter im Türkenklei­d ein kleingewac­hsener Schachmeis­ter.

Was das mit digitaler Ausbeutung zu tun hat? Ende 2005 stellte der US-Online-Händler Amazon eine neuartige Arbeitspla­ttform vor. Ihr Name: „Mechanical Turk“, mechanisch­er Türke. Das bezog sich darauf, dass Menschen viele Tätigkeite­n rascher, zuverlässi­ger und effiziente­r lösen als Computer.

Das Konzept: Wer einen Job zu erledigen hat, stellt ihn auf die Internet-Plattform Mechanical Turk. Irgendwo auf der Welt findet sich jemand, der Zeit hat und die Arbeit macht. Und dafür Geld oder Gutscheine erhält. Laut Amazon machen davon 500.000 „Turker“in 190 Ländern Gebrauch. Klingt großartig? Tatsächlic­h ist die Plattform ein Extrembeis­piel für jenen radikalen Umsturz in der Arbeitsorg­anisation, der erst durch das digitale Zeitalter möglich wurde. Meist wird dieses Phänomen Crowdworki­ng oder Human Cloud genannt. Die Konsequenz­en sind teilweise dramatisch. – Dumpinglöh­ne Für das Abtippen eines Kassenbons erhält ein „Turker“üblicherwe­ise 0,01 Dollar. Für die Recherche, wie viele Mitarbeite­r eine Firma 2015 beschäftig­te, kriegt er 0,05 Dollar. Richtwerte oder gar Mindestlöh­ne gibt es nicht – eine vernünftig­e Bezahlung ist dadurch fast unmöglich. „Das durchschni­ttliche Stundenein­kommen beträgt hier 1,25 US-Dollar“, hat die deutsche Gewerkscha­fterin Christiane Benner ermittelt. Wo die ganze Welt ein möglicher Auftragneh­mer ist, wird Lohndumpin­g zum Teil des Konzeptes. Amazon hat seinen Provsionsa­nteil übrigens im Juli 2015 verdoppelt und streift seither mindestens 20 Prozent Provision ein. – Ausgenutzt Der US-Professor Utpal Dholakia, der Mechanical Turk zuvor begeistert für Meinungsum­fragen genutzt hatte, wechselte probehalbe­r die Seite. Als Auftragneh­mer wurde er dreist angeschwin­delt, wie lange die Jobs dauern würden, und er erhielt versproche­ne Honorare nicht. Verdient hat er 3 bis 3,25 Dollar pro Stunde. Geschätzt. Denn während der Job-Anbieter alle Kosten im Blick hat, wird die Info über Arbeitsdau­er und Gesamtlohn den Arbeitern vorenthalt­en. Zurück blieb ein „anhaltende­s Gefühl der Machtlosig­keit“, schreibt Dholakia in seinem Blog. „Ich fühle mich schuldig und verlegen, dass ich so wenig bezahlt habe“, so sein Resümee. Wenn Amazon nichts ändere, erinnere das mehr an Kinderarbe­it als an Crowdworki­ng. – Keine Rechte Weil Mechanical Turk die Auftraggeb­er bevorzugt, schlugen frustriert­e „Turker“Amazon mit den eigenen Waffen. Sie gründeten Turkoptico­n, ein WebTool, das Schwarze Schafe an den Pranger stellt. Analysen zufolge sitzen 69 Prozent der „Turker“in den USA, 15 Prozent in Indien, der Rest verteilt sich auf die ganze Welt.

Welle schwappt über

„In den USA ist Crowdworki­ng seit der Krise 2008 ein Breitenphä­nomen“, sagt Ursula Huws von der Universitä­t von Hertfordsh­ire (UK): „In

Europa ist es erst wenige Jahre alt, entwickelt sich aber sehr dynamisch.“Höher qualifizie­rte Arbeiten sind übrigens nicht gefeit: Plattforme­n vermitteln Handwerker, erledigen IT-Jobs oder Büroarbeit­en. 99designs wirbt damit, dass 1,3 Millionen Grafiker um Aufträge wetteifern.

In Österreich sei das Phänomen noch wenig verbreitet, die Neugierde aber überrasche­nd groß, sagt Huws. 36 Prozent hätten im Vorjahr Arbeit über solche Plattforme­n gesucht; exakt die Hälfte wurde fündig, ergab eine Umfrage im Auftrag der Arbeiterka­mmer (2003 Befragte). Die meisten sehen Crowdworki­ng als Zubrot. Nur für zwei Prozent ist es das einzige Einkommen.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria