Julius Tandler, der große Reformer im „roten Wien“
Wiener Stadtrat. Ausstellung zum 80. Todestag
Kaum ein Politiker hat das „rote Wien“der 1920er- und frühen 1930er-Jahre so geprägt wie der Arzt und Gesundheitsstadtrat Julius Tandler. Er sorgte dafür, dass sich der Staat an den Kosten der Heilbehandlung aller Bürger beteiligt, führte neue HygieneStandards ein, revolutionierte das Fürsorge- und Gesundheitswesen. Aus Anlass seines 80. Todestages ist Julius Tandler im Wiener Karl-Marx-Hof eine Ausstellung gewidmet.
Wien war, als Tandler 1920 Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen wurde, eine vom Weltkrieg ausgelaugte, verfallene, schmutzige Stadt. Er erkannte, dass revolutionäre Ideen nötig waren. Seine Maßnahmen trugen dazu bei, dass „aus dem Bettlervolk ein Fürsorgevolk wurde“.
Armutsbekämpfung
Zu den wichtigsten Schritten gegen die Armut zählten der Bau von 60.000 Gemeindewohnungen sowie Sportstätten und Bädern, die durch eine Fürsorgeabgabe finanziert wurden. Tandler bekämpfte Tuberkulose und Alkoholmissbrauch, führte SäuglingsWäschepakete ein, gründete Eheberatungsstellen, in denen auch über Empfängnisverhütung als Mittel gegen Geschlechtskrankheiten und über Abtreibung informiert wurde. „Es geht nicht darum, die Abtreibung zu verbieten“, sagte er, „sondern darum, sie überflüssig zu machen“.
Julius Tandler war 1869 als Sohn eines Altkleiderhändlers in der mährischen Stadt Iglau zur Welt und als Kind nach Wien gekommen. Hier studierte er Medizin, wurde der führende Anatom und Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Wien, als der er das Medizinstudium reformierte, mehr Stipendien ermöglichte und das Frauenstudium befürwortete.
In Julius Tandlers Wirken gibt es einen dunklen Punkt, der im Widerspruch zu seinem Handeln steht, wenn er in Aufsätzen „die Vernichtung von unwertem Leben“forderte, das man opfern müsse, „um lebenswertes zu erhalten“.
1934 verhaftet
Obwohl zum katholischen Glauben konvertiert, geriet er infolge seiner jüdischen Herkunft ins Zentrum antisemitischer Ausschreitungen, einmal wurde Tandlers Hörsaal von nationalsozialistischen Studenten gestürmt. Nach den Februar-Kämpfen im Jahr 1934 wurde er vorübergehend verhaftet und in Pension geschickt. Tandler starb am 25. August 1936 in Moskau.
Selbst seine Gegner zollten dem Sozialdemokraten Respekt. „Die Leistungen auf dem Gebiete der Fürsorge waren beachtenswert“, schrieb die christlichsoziale Reichs
post. Und die Neue Freie Presse würdigte Tandlers Reformen „zum Wohle der Wiener Bevölkerung, deren manche beispielgebend für ausländische Stadtverwaltungen wurden.“
georg.markus@kurier.at
Ausstellung „Julius Tandler oder: Der Traum vom neuen Menschen“, ab 22. September im Waschsalon Nr. 2, Karl-MarxHof, 1190 Wien Halteraugasse 7