Keanu Reeves unter Kannibalen
Venedig. Menschenfresser-Western von Ana Lily Amirpour, ein verfehltes Leben von Stéphane Brizé
In Venedig hat die Abwanderung begonnen. Zwar läuft das Festival noch bis zum Wochenende, doch der Konkurrent in Toronto ruft bereits. Dort startet das wichtigste Filmfestival des nordamerikanischen Filmmarktes, und ein Teil des Besuchertrosses, bestehend aus Journalisten und Filmeinkäufern, zieht langsam weiter. Die Sitzreihen in den Kinos lichten sich spürbar, die Menschengruppen dünnen sich aus.
Wer es von den Dagebliebenen in den frühmorgendlichen Wettbewerbsfilm von Ana Lily Amirpour „The Bad Batch“geschafft hat, benötigt starke Nerven. Denn gleich zu Beginn landet ein junges Mädchen in einer staubigen Straf kolonie in der texanischen Wüste. Und bevor sie – oder auch wir – wissen, wie ihr geschieht, wird sie von einer Horde langhaariger muskelprotziger Neo-Wilder in Ketten gelegt.
Eine wüstes WarriorWeib nähert sich mit der Säge, schneidet der kreischenden Gefangenen – Ritze-Ratze – einen Arm und ein Bein ab und wirft die Fleischstücke in die Pfanne. Kein schöner Anblick auf nüchternen Magen. Spätestens jetzt sind alle im Kinosaal munter.
Lustig geht es weiter. Die junge Frau kann aus dem Lager der Menschenfresser flüchten – gar nicht so einfach mit nur einem Arm und einem Bein. Sie landet in einer Schrott-Siedlung verlumpter Wüstenbewohner, die von Keanu Reeves im weißen Hemd regiert wird. Und auch Jim Carrey hat einen signifikanten Auftritt, wiewohl er als Obdachloser mit schiefen Zähen und Zottelbart kaum zu erkennen ist.
Die deftige Mischung aus räudiger „Mad Max“-Ästhe- tik, abgefahrenem TarantinoGusto und Kannibalen-Western stammt von der iranischamerikanischen Filmemacherin Ana Lily Amirpour (Jahrgang 1980), deren Teheraner Vampirfilm „A Girl Walks Home Alone At Night“bereits in Sundance für Aufsehen sorgte. Amirpour ist eine von zwei Frauen, deren (zweiter) Spielfilm im Wettbewerb läuft, und brennt sich mit starken Bildern in Gedächtnis und Magengrube.
Ihr visueller Einfallsreichtum lässt im Verlauf der originalitätsgeplagten Geschichte zwischen Drogenrausch und Keanu Reeves allerdings zunehmend nach und verplempert sich zu einem faden Abschluss. Immerhin braten sich die Kannibalen am Ende keinen Menschenfuß, sondern einen Hasen.
Untreu
Trotzdem bildete „A Bad Batch“im Wettbewerb ein kleines Höhepünktchen, nachdem die Beiträge der letzten Tage eher einer Plateau-Wanderung auf mittlerem Niveau glichen.
Der Franzose Stéphane Brizé – zuletzt mit „Der Wert des Menschen“in den Kinos – verfilmte Guy de Maupassants Roman „Ein Leben“zu einem anspruchsvollen, im letzten Drittel aber ermüdenden Historienfilm über das verschleppte Leben einer jungen Adeligen. Gefangen zwischen drei Männergeneratio- nen – dem dominanten Vater, dem untreuen Ehemann, dem haltlosen Sohn – stolpert die junge Frau vom naiven Mädchen ins desillusionierte Erwachsenenalter. Brizé erhellt ihre zunehmend trostlose Gegenwart mit lichten Erinnerungen aus einer verheißungsvolleren Vergangenheit, in der Momente von Glück aufflammten. Mit seinem verengten, im heutigen Kino unüblichen 4:3-Bildformat intensiviert er die Beengtheit eines verfehlten Ich- Entwurfes. „Das Leben ist weder so gut, noch so schlecht, wie man denkt“, heißt es am Ende. Eine Weisheit, die sich übrigens auch ganz gut auf die Qualität des Wettbewerbs anwenden ließe.