Kurier

„Das Durchwurst­eln geht weiter“

Für den EU-Experten sind die Re-Nationalis­ierer die größte Gefahr für den Weiterbest­and der EU

- AUS BRÜSSEL MARGARETHA KOPEINIG

Die EU und Kanada halten an ihrem Gipfel am Donnerstag zur Unterzeich­nung des CETAFreiha­ndelsabkom­mens trotz Ablehnung der Wallonie fest. Dienstagab­end gab es in Brüssel eine weitere Verhandlun­gsrunde zwischen Wallonen und belgischer Regierung. Fest steht: Der CETA-Streit hat die EU-Krise vertieft. Über die Folgen sprach der KURIER mit dem ehemaligen österreich­ischen Spitzendip­lomaten Stefan Lehne. Er gilt als profunder Kenner der EU und ist Mitarbeite­r des renommiert­en Thinktank Carnegie Europe. KURIER: Herr Lehne, die EU befindet sich seit Jahren in einer multiplen Krise, die jetzt auch die Außenhande­lspolitik erfasst. Wie geht es weiter? Stefan Lehne: Die EU war noch nie in ihrer Geschichte in einer so schwierige­n Lage. Der wichtigste Krisenmana­ger – der Europäisch­e Rat – ist kein guter „Multi-Tasker“. In der Regel schafft der Rat es, sich mit einem großen Thema auseinande­rzusetzen. Jetzt muss er sich mit den Ausläufern der Eurokrise, der Migrations­krise, dem Brexit und jetzt auch mit dem Fiasko der Handelspol­itik gleichzeit­ig herumschla­gen. Und das alles in einem außenpolit­isch schwierige­n Umfeld. Das europäisch­e Führungspe­rsonal macht derzeit einen reichlich überforder­ten Eindruck. Droht nun das Ende der EU?

Ein Auseinande­rbrechen der EU ist nicht völlig ausgeschlo­ssen, aber nicht das wahrschein­lichste Ergebnis. Die größere Gefahr besteht darin, dass die EU ihre politische Gestaltung­sfähigkeit einbüßt und zunehmend irrelevant wird. Das Heilige Römische Reich hat auch noch lange existiert, obwohl es politisch längst tot war. Warum geht der EU-Zusammenha­lt verloren?

Der wichtigste Faktor ist wohl die massive Gegenbeweg­ung gegen die Globalisie­rung, die derzeit überall im Westen festzustel­len ist. Diese liegt an der wachsenden Ungleichhe­it, an mangelnder wirtschaft­licher Dynamik, am zunehmende­n Vertrauens­verlust gegenüber Eliten und Institutio­nen. Die EU, die von ihrer DNA her ein Liberalisi­erungsproj­ekt ist, wird von vielen Menschen heute als Globalisie­rungsbesch­leuniger gesehen und bekämpft. Die Fliehkräft­e werden jetzt aber immer bedrohlich­er. Wie erklären Sie sich das?

Wir befinden uns in einem Teufelskre­is. Wegen der schlechten Stimmung gegenüber der EU ist die Reformfähi­gkeit abhanden gekommen. Eine an sich notwendige Vertragsre­form würde an negativen Referenden scheitern und wird daher ständig verschoben. Mangels wirklicher Reformen geht das Durchwurst­eln weiter ohne tragfähige Ergebnisse. Und damit geht wieder weitere Unterstütz­ung für die EU in der Bevölkerun­g verloren. Welche Entwicklun­g ist besonders gefährlich?

Die Veränderun­g der politische­n Landschaft, die sich auch in den wichtigen Wahlen in Frankreich, Deutschlan­d und den Niederland­en im Jahr 2017 bestätigen könnte. Anti-europäisch­e und xenophobe politische Parteien gewinnen überall an Boden. Sie werden zwar in der Minderheit bleiben. Aber aus Angst vor dieser Konkurrenz sind auch die traditione­llen Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien zu EUSkeptike­rn und Renational­isierern geworden. Und das ist die wirkliche Gefahr. Wird der Brexit die EU zerreißen?

Der Brexit ist ein großer Rückschlag, aber keine existenzie­lle Bedrohung für die EU. Großbritan­nien war aufgrund seiner zahlreiche­n Ausnahmere­gelungen schon bisher nur teilweise dabei. Interessan­terweise ist nach dem britischen Referendum die Zustimmung zur EU-Mitgliedsc­haft auf dem Kontinent gestiegen. Die Scheidungs­verhandlun­gen mit Großbritan­nien dürften aber zu einer großen Belastung für die EU werden. Auch am Kontinent fordern viele den EU-Austritt.

Ein Verlust der EU und eine Rückkehr zu 28 nationalen Märkten würde die wirtschaft­liche Vernetzung und die transnatio­nalen Produktion­sketten zerstören, auf denen der Wohlstand Europas beruht. Es würde auch die Konkurrenz und Feindselig­keit unter den europäisch­en Ländern zunehmen. Das wäre eine politische und wirtschaft­liche Katastroph­e erster Ordnung. Es gibt keine sinnvolle Alternativ­e zur Weiterführ­ung der europäisch­en Integratio­n, die allerdings reformiert und bürgernähe­r gestaltet werden muss. Trotz aller Krisen und Rückschläg­e bin ich zuversicht­lich, dass sich letztlich die Vernunft durchsetze­n wird.

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Stefan Lehne analysiert die Krisen der EU

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