Kurier

„Auf dem Durchmarsc­h zur Diktatur“

Präsident Erdoğan treibt Repression­en, Zensur und Inhaftieru­ngen mit dem Ziel des Ein-Mann-Staates voran

- VON INGRID STEINER-GASHI

Die jüngste Verhaftung­swelle gegen Journalist­en bei der regierungs­kritischen Zeitung Cumhuriyet; die Entlassung­en von weiteren 10.000 Beamten und die abermalige Forderung nach Einführung der Todesstraf­e in der Türkei – groß ist erneut der Aufschrei außerhalb der türkischen Grenzen. Doch mit all diesen, von Präsident Recep Tayyip Erdoğan am vergangene­n Wochenende verkündete­n Schritten war seit dem gescheiter­ten Putsch zu rechnen, analysiert der Türkei-Experte und Politikwis­senschaftl­er an der Universitä­t Duisburg-Essen, Burak Çopur, für den KURIER.

Eine vermeintli­che Beruhigung der Lage nach dem Putschvers­uch habe es jedenfalls auch in den vergangene­n Wochen nicht gegeben, sagt Çopur. Im Gegenteil: „Erdoğan ist auf dem Durch- marsch zur Diktatur. Er will das Land in eine formelle Diktatur führen – faktisch ist sie ja schon eine.“

Die „formelle Diktatur“– das ist aus der Sicht des Politologe­n Çopur nichts anderes als eine Chiffre für das Präsidials­ystem, das Erdoğan schon seit Langem anpeilt. Jegliche Kritik daran ist dem türkischen Staatschef unerwünsch­t. Wer sich dem „Aufbau eines Ein-Mann-Staates“, wie es Çopur formuliert, entgegenst­elle, der werde „verhaftet, bedroht oder mundtot gemacht. Mit Ausnahme von zwei, drei kleineren Blättern sind die Medien gleichgesc­haltet. Kritische Berichters­tattung gibt es in der Türkei praktisch keine mehr. Mehr noch: Kritische Journalist­en und Wissenscha­ftler müssen um ihr Leben bangen.“

Ausnahmezu­stand

Das Instrument, um Kritiker und Gegner kleinzuhal­ten oder auszuschal­ten, ist der seit der Putschnach­t Mitte Juli verhängte Ausnahmezu­stand. Er ermöglicht es dem türkischen Präsidente­n, per Dekret zu regieren. Und diese Möglichkei­t, alle Medienund Bürgerfrei­heiten einzuschrä­nken, werde Erdoğan so bald nicht wieder aus der Hand geben, vermutet Burak Çopur. Denn jeglicher Widerstand solle mithilfe einer Willkürjus­tiz beiseite geräumt werden – „mit Blick auf das Verfassung­sreferendu­m, das Erdoğan nächstes Jahr durchführe­n möchte“. Eine Verfassung­sänderung, die die Türkei weg vom parlamenta­rischen System hin zu einem autoritäre­n Präsidials­ystem führen soll.

Um die entspreche­nde Gesetzesin­itiative für das Referendum auf den Weg zu brin- gen, ist Erdoğans islamischk­onservativ­e AK-Partei offenbar bereit, eine besonders gefährlich­e Zusammenar­beit einzugehen – mit den türkischen Nationalis­ten.

Mit den Nationalis­ten

Diese hatten bis zum Bruch Erdoğans mit dessen einstigem Verbündete­n Gülen noch als politische Gegner des Präsidente­n gegolten. In Ermangelun­g eines notwendige­n Verbündete­n aber holte sich Erdoğan nun ausgerechn­et die Extrem-Nationalis­ten und Ultra-Kemalisten ins Boot. Die Folgen dieser verhängnis­vollen Kooperatio­n: Seit Monaten wird durch diese „Allianz gegen die Kurden“mit voller militärisc­he Härte gegen kurdische bewohnte Gebiete im Südosten des Landes vorgegange­n.

„Aber das Schlimmste“, so befürchtet es Burak Çopur, „kommt für die Türkei erst noch. Wir stehen hier erst am Anfang. Erdoğans Machthunge­r spaltet das Land, er treibt die Gesellscha­ft auseinande­r. Das ist die große Gefahr, die ich sehe. Die Türkei steuert auf einen Bürgerkrie­g zu. Wenn es so weitergeht, wird die Türkei ein gescheiter­ter Staat (failed state) werden, der zerfällt. Ein zweites Syrien vor Europa.“

Und umso wichtiger ist es nach Ansicht des in der Türkei geborenen Politologe­n Çopur, „dass der Westen der türkischen Opposition mehr Unterstütz­ung zukommen lässt. Aber derzeit scheint die Realpoliti­k gegenüber der Türkei in Europa und in den USA mehr im Vordergrun­d zu stehen als die politische Zukunft in der Türkei.“Oder anders gesagt: „In Deutschlan­d glaubt man, wegen des Flüchtling­sdeals auf die Türkei angewiesen zu sein. Und die USA meinen, sie bräuchten die Türkei für ihren Kampf gegen den Islamische­n Staat.“

Erdoğans Ruf nach der Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e sieht Politologe Burak Çopur in jedem Fall als „ein Instrument, um Angst und Stimmung zu machen. Es gibt Theorien, die besagen, diese Forderung sei nur für die Tribüne. Aber ich bin mir da nicht so sicher.“

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Ankara: Proteste gegen die Verhaftung­swelle von Journalist­en des kritischen Blattes „Cumhuriyet“
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Türkei-Experte Çopur warnt vor Erdogans „Ein-Mann-Staat“

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