Aus dem Rand in die Mitte der Gesellschaft
Behinderung ist oftmals ein Tabu – NGOs kämpfen dagegen an
Prakash Baishya hat einen Job, den er liebt. Er ist Lehrer. Und auch wenn er seiner Berufung nur 150 Kilometer von seinem Heimatdorf nachgehen kann, so tut er es dennoch. Prakash Baishya ist von Geburt an blind. Einen Job als Lehrer zu finden, hat einiges an Mühe gekostet – trotz geltender Drei-ProzentQuote für behinderte Menschen im öffentlichen Dienst. Jetzt aber prozessiert er gegen den indischen Staat – wegen ausstehender Gehaltszahlungen. Denn Lohn hat er bisher nicht erhalten. Über Wasser hält er sich mit Nachhilfestunden.
Ein Urteil ist in der Sache bereits ergangen – zu seinen Gunsten. Geld hat er dennoch nicht erhalten. Und so wird wohl in nächster Instanz gegen lokale Behörden wegen Missachtung einer gerichtlichen Anweisung prozessiert werden, wie Amvalika Senapati sagt. Die junge Frau ist Anwältin bei Shishu Sarothi, einer Organisation, die sich um die Integration und vor allem auch um die Rechte behinderter Menschen kümmert, mit Sitz in Guwahati, der Hauptstadt der Region Assam.
Die Geschichte von Prakash Baishya steht symptomatisch für die Lage behinderter Menschen in Indien. Zwar war Indien eines der ersten Länder, die die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert haben. Die Gesetzgebung in diesen Belangen ist modern. Die Realität sieht aber sehr oft anders aus. Oft ist es Scham, die Eltern dazu treibt, ihre Kinder im Haus zu verstecken. Oft sind es die vermuteten Kosten einer Physiotherapie und das Unwissen über zivilgesellschaftliche Angebote, die Eltern dazu bringen, nichts zu tun – mit schwerwiegenden Folgen, die eine Nicht-Therapierung mit sich bringt.
Sehr oft ist es die Bürokratie selbst, die dieser Thematik gegenüber die Augen verschließt. Und so sind nach einer nationalen Studie 74 Prozent der körperlich oder geistig beeinträchtigten Personen in Indien von staatlichen Zuwendungen abhängig. Was nicht zuletzt dem Staat erhebliche Summen kostet, wenn man bedenkt, dass laut einer Studie der WHO in der Nord- ost-Region Indiens 15 Prozent der Bevölkerung mit einer Behinderung leben. Das sind sage und schreibe 9,6 Millionen Menschen.
Wie im Fall von Prakash Baishya sind es dann oft NGOs wie Shishu Saroti, die Auf klärungsarbeit leisten und in vielen Fällen die Umsetzung geltenden Rechts einfordern.
In seinem Bezirk hat Vinod Seshan aufgeräumt. Sein Büro hat der Bezirkschef von Kamrup ins Erdgeschoß eines zweistöckigen Verwaltungsgebäudes verlegt – damit alle es auch erreichen können. Vor dem Eingang zu dem Gebäude hat er eine Rampe für Rollstuhlfahrer bauen lassen. Wie viele behinderte Menschen in seinem Distrikt leben, weiß er aber nicht. Es mangle an aussagekräftigen Erhebungen, sagt er. Auf die offensichtliche Kluft zwischen Gesetzgebung und Umsetzung angesprochen, sagt er: „Die Gesetzgebung hat eine Vision, aber sie wird nicht in die Realität umgesetzt.“Daher brauche der Staat dringend die Expertise von Nicht-Regierungs-Organisationen. Weil, wie er sagt: „Bürokratie lernt nicht.“
Es ist dann auf der anderen Seite doch auch die Bürokratie, die dazu führt, dass letztlich über 90 Prozent der Kinder mit Behinderung eingeschult werden. Wenn auch die Drop-out-Rate hoch ist.
Das liegt mitunter an unwegsamen Schulwegen, manchmal am Desinteresse der Eltern, sehr oft aber an Kapazitäten. So mangelt es an im Umgang mit Behinderten geschulten Lehrern. Und es ist zugleich auch die Bürokratie, die Organisationen wie Shishu Saroti zuweilen die Schweißperlen auf die Stirn treibt, wie Amvalika Senapati andeutet, wenn sie über ihre Mühen mit den Gerichten spricht.
Bei Puja Boro hat sich letztlich alles doch irgendwie zum Guten gewendet – über viele Umwege. Sie leidet an Zerebralparese. Das Leben der 19Jährigen war bisher ein Auf und Ab zwischen Schulen, Heimunterricht von ihrer Mutter, weil es in der Schule Probleme gab, Attacken von Kindern im Dorf, Geldmangel.
Heute studiert Puja Boro internationales Wirtschaftsrecht. Lesen ist ihr liebstes Hobby. Es waren Pujas Eltern sowie Druck und finanzieller Beistand einer regionalen NGO und von Licht für die Welt, die das ermöglicht haben. Wenn Pujas Mutter über die vergangenen Jahre spricht, so klingt uneingeschränkter Stolz auf ihre Tochter durch. Sie sagt: „Wenn irgendjemand meiner Tochter etwas antut, dann werden sie es mit mir zu tun bekommen.“Und es ist klar, dass sie weiß, wovon sie spricht. Ein Leben in Unabhängigkeit als selbstständige Frau, das ist es, was sie ihrem Kind wünscht.