Brexit: Das Parlament wird mitentscheiden
Gerichtsurteil. EU-Austritt verzögert sich
Die britische Regierung wird nicht allein über den EUAustritt Großbritanniens entscheiden, sondern muss das Parlament mit einbeziehen – so lautete gestern das Urteil des Obersten Gerichtes. Das bedeutet zwar nicht den Ausstieg aus dem Brexit, wohl aber vermutlich erhebliche Verzögerungen beim Auslösen des Austritts-Antrages Londons. Premierministerin Theresa May hatte ja angekündigt, bis spätestens Ende März den berühmten Artikel 50 in Kraft zu setzen – also den Start der Austrittsverhandlungen mit der EU. Das Parlament aber wird dagegen den Bremsgang einlegen und auf ein Gesetz bestehen, in das noch viele Forderungen eingebaut werden könnten. Bisher war eine Mehrheit der Parlamentarier gegen den Brexit.
„Brexit heißt Brexit“, tönte der britische Außenminister Boris Johnson erst vorgestern Abend bei einer Preisverleihung für die Parlamentarier des Jahres, „und wir werden einen titanischen Erfolg daraus machen“. Auf Englisch hieß das: „a titanic success.“„Aber die Titanic sank!“warf schlagfertig der neben ihm auf der Bühne stehende ExSchatzkanzler Osborne ein.
Keiner der beiden rechnete damit, dass der BrexitDampfer schon am nächsten Morgen einen mächtigen Eisberg rammen würde. Da verlautbarte nämlich der Lord Chief Justice das Urteil des Höchstgerichts von England und Wales über eine Klage gegen die britische Regierung, eingebracht von einer Gruppe von Individuen rund um eine Investment-Managerin namens Gina Miller und einen Friseur namens Deir Dos Santos. Angefochten wurde Premierministerin Theresa Mays Plan, den Artikel 50 zum Verlassen der EU unter Verwendung eines königlichen Vorrechts („Royal Prerogative“) der Regierung auszulösen.
Der Gerichtshof gab der Einschätzung der Kläger recht, dass ein EU-Austritt sie ihrer im Europäischen Unionsakt von 1972 verbrieften Rechte berauben würde. Jene Rechte wurden vom Parlament in britisches Gesetz überführt. Ihre Auf hebung dürfe somit ebenfalls nur vom britischen Parlament und nicht nur durch eine Weisung der Regierung beschlossen werden.
Downing Street hob so- gleich beim Obersten Gerichtshof, dem Supreme Court, Berufung gegen dieses Urteil ein. Mit dem offensichtlichen Risiko, die eilende Angelegenheit noch weiter zu verschieben. Schließlich will May bis zum März nächsten Jahres den zweijährigen Austrittsprozess aktiviert haben. Sonst würden sich nämlich die Scheidungsverhandlungen mit den Europa-Wahlen 2019 kreuzen.
Während nun der Berufungsprozess läuft, häufen sich bereits jede Menge unterschiedliche Ansichten über die Bedeutung des Urteils. Vor dem Referendum bestand im Unterhaus eine glatte Zweidrittelmehrheit für den EU-Verbleib. Heute würden bei einem parlamentarischen Votum allerdings wohl die meisten Unterhausabgeordneten das Volksabstimmungsergebnis ihres jeweiligen Wahlkreises respektieren und notfalls gegen die eigene Überzeugung pro Austritt stimmen – schon aus karrieretaktischen Gründen.
Doch wie der High Court in seinem Entscheid feststellt, bedarf es zur Auf hebung europäischer Bürgerrechte durch den EU-Austritt eines eigenen Gesetzesbeschlusses. Und der will erst einmal zur Befriedigung des Unterhauses formuliert sein.
Weg vom „hard brexit“
De facto bedeutet das gestrige Urteil – falls die Berufung der Regierung scheitert – also nicht eine Aufhebung des Brexit-Entscheids, aber zumindest eine erhebliche Verzögerung seiner Konsequenzen. Und einen wesentlichen Schritt weg von der derzeitigen Regierungslinie eines „hard Brexit“in Richtung der von der Mehrheit des Unterhauses angestrebten, sanften Lösung eines möglichen Verbleibs im europäischen Binnenmarkt.
Vor dem EU-Referendum war viel von der Souveränität des britischen Parlaments gegenüber Brüssel die Rede gewesen. Gestern richtete Kläger Deir dos Santos, übrigens selbst ein BrexitWähler, das selbe Argument gegen die britische Regierung in London: „Dieses Urteil“, sagte er, „ist ein Sieg für alle, die an die Hoheit der parlamentarischen Demokratie glauben.“