Kurier

„Sie holen uns“– ein Aufruf gegen die Diktatur

Can Dündar. Der ehemalige Chefredakt­eur der Cumhuriyet in der Zeit über das Erdoğan-Regime

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„Sie kennen sicher Churchills Beschreibu­ng von Demokratie: ,Wenn es morgens früh an meiner Tür läutet, und ich kann sicher sein, dass es der Milchmann ist, dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe.‘ Dieser Definition nach ist die Türkei keine Demokratie.

Am vergangene­n Montag läutete es an den Türen von 18 Mitarbeite­rn der Zeitung Cumhuriyet. Morgens um fünf Uhr. Zuerst nahm die Polizei Murat Sabuncu fest, meinen Nachfolger als Chefredakt­eur. Anschließe­nd durchsucht­e sie die Häuser sämtlicher Vorstände (...) und nahm alle fest.

Kurz bevor die Nachricht mich erreichte, war ich von einem Interview mit dem 88jährigen Edzard Reuter zu- rückgekehr­t. Sein Vater, der ehemalige Berliner Bürgermeis­ter Ernst Reuter, hatte sein Land verlassen, als Hitler an die Macht gekommen war, und war in die Türkei gegangen. Edzard hatte zwischen 1935 und 1946 einen Teil seiner Kindheit in der Türkei verbracht. Als er zum Interview kam, war er frisch aus der Türkei zurück, die er seine ,zweite Heimat‘ nennt. Er war zutiefst besorgt. Einer seiner Sätze schockiert­e mich: ,Was derzeit in der Türkei geschieht, erinnert mich an die Anfänge der NS-Zeit in Deutschlan­d.‘ Entsetzt über diesen Satz war ich eingeschla­fen, am nächsten Morgen weckte mich dann der Anruf. Da schien nicht das Telefon zu klingeln, sondern gleichsam die Alarmglock­e des Faschismus zu läuten.

Nach dem Putschvers­uch, der in meinem Land viele von uns an den Reichstags­brand erinnert hatte, war das Parlament ausgeschal­tet worden, eine landesweit­e Hexenjagd hatte eingesetzt (...).

Die Cumhuriyet gehörte zu denen, die aufschrien gegen das Schweigen. Sie ist die älteste und renommiert­este Zeitung der Türkei. Sie ist die Zeitung, die die illegalen Waffenlief­erungen Erdoğans nach Syrien enthüllte, gegen seine kriegstrei­berische Politik protestier­te (...) und gegen seine Politik der Islamisier­ung der Bildung den Laizismus hochhält.

Schlafen kommt für uns nicht mehr infrage. Bis zu dem Tag, an dem wir sicher sein können, dass es der Milchmann ist, wenn es morgens an unserer Tür läutet.“

Can Dündar war Chefredakt­eur der „Cumhuriyet“. Im November 2015 wurde er inhaftiert, vor dem Berufungsv­erfahren verließ er die Türkei. In der „Zeit“schreibt er regelmäßig Kommentare.

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Can Dündar ist über die jüngsten Vorgänge in der Türkei besorgt

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