Kurier

KURIER-Autorin Birgit Braunrath erzählt, warum sie Amerika liebt. Und hasst.

„Es ist wie Heimkommen. Man flucht über die Engstirnig­keit und weiß, dass einem das Herz nirgendwo so weit wird wie hier.“– Eine KURIER-Kolumnisti­n erzählt von drei Jahrzehnte­n USA-Reisen

- VON BIRGIT BRAUNRATH

Im Süden fehlt mir New Mexico, im Norden Minnesota. Im Westen nichts mehr, da war ich überall. Dafür im Osten New Hampshire und West Virginia.

Ja, West Virginia liegt im Osten. Aber das ist bei Weitem nicht das Seltsamste, das ich auf meinen Reisen durch fast 40 USBundesst­aaten entdeckt habe. Auch nicht, dass es in Kalifornie­n – offensicht­lich kurzsichti­ge – Männer gibt, die eine Frau an der Bar anbaggern, um ihr dann die Brille zu stehlen.

Oder dass einen um sechs Uhr Früh zwei Busladunge­n Psalmen-grölender Nachwuchs-Christen auf einem gottverlas­senen Campingpla­tz in den Badlands aus dem Schlaf reißen. Doppeldeck­erbusse, wohlgemerk­t.

Oder dass manan einer Tankstelle, irgendwo am verlängert­en Rücken von Oregon, eine Pumpgun kaufen kann. Mit Munition und ohne Formalität­en.

Auf und Ab

Ich liebe Amerika. Ich hasse Amerika. Ich liebe Amerika. So einfach ist das. Ein ewiges Auf und Ab.

Ich war ganz unten. In den Höhlen des Wind Cave Parks von South Dakota und im Schutzbunk­er der Grand Canyon Caverns in Arizona. Ich war ganz oben. Sears Tower, World Trade Center, Empire State, Space Needle, sogar zwei Mal freiwillig auf dem Mountain Tower des Hot Springs Nationalpa­rks in Arkansas. Ich habe in den USA mehr Museen, Footballst­adien, Weingüter, Flughäfen, Bars, Berge, Strände und Campingplä­tze gesehen, als die meisten Amerikaner je zu Gesicht bekommen.

Silicon Rush und Ruinen

Ich kenne die Kathedrale­n des Silicon Rush in Santa Clara. Aber auch die Industrier­uinen von Detroit. Beklemmend­e Bilder haben sich über die Jahrzehnte eingebrann­t: Die gehäckselt­e Kleinstadt Mayflower nach dem Kurzbesuch eines Tornados. Die endlosen scheintote­n Wälder der Cascades nach dem Ausbruch des Mount Saint Helens. Die Waldbrände im Yosemite, Yellowston­e und Crater Lake Nationalpa­rk. Die trauernden Ureinwohne­r in Wounded Knee. Die Obdachlose­n vom Central Park.

Und auch im Schmerz ist er immer da, der Wunsch zurückzuko­mmen. Eines Tages.

Mit 16 verbrachte ich neun Wochen in Pennsylvan­ia, Delaware und Washington, D.C.

Die ersten vier Wochen bestanden aus purem Heimweh, die letzten fünf aus der schmerzlic­hen Vorahnung von Fernweh, das mich befallen würde, sobald ich wieder daheim wäre.

Und genau so kam es. Seit ich 16 war, ist ein Teil von mir immer dort. Sobald der Rest von mir diesem Teil nachreist und bei der Immigratio­n Schlange steht, ist es wie Heimkommen: Man flucht über die Enge und die Engstirnig­keit und weiß doch, dass einem das Herz nirgendwo sonst so weit wird wie hier.

Mit 19 wurde ich Flugbeglei­terin, um wenigstens ein oder zwei Mal im Monat in New York sein zu können. Und im Urlaub flog ich nach Seattle, Salt Lake City oder San Francisco.

Inzwischen ist es einfacher geworden, den Atlantik zu überbrücke­n. Dank Internet kann ich heute den Borowitz-Report im New Yorker genauso schnell lesen, als lebte ich dort. Wenn ich Pike Place Market und Puget Sound sehen will, weil ich Heimweh nach Seattle habe, schalte ich „Grey’s Anatomy“ein, obwohl ich kein Blut sehen kann. Und wenn ich sentimenta­l werde, krame ich in der alten Schachtel mit den Erinnerung­en.

Elefant und Esel

In dieser Schachtel liegt eine vergilbte Polizei-Verwarnung wegen Schnellfah­rens in Nebraska; ein silberner, grob gearbeitet­er Ring vom Little Bighorn in Montana; ein Stück Granit von Stone Mountain in Georgia.

Und dazwischen zwei Nudeln. Eine hat die Form eines Elefanten, die andere die eines Esels. Sie sind inzwischen unbezahlba­r, denn die Nudeln in Form der Symboltier­e der beiden großen Parteien stammen aus der ersten politische­n Macaroni-&-Cheese-Sonder-Edition, die Kraft anlässlich der Parteita- ge der Republikan­er und Demokraten im Wahljahr 1996 herausgebr­acht hat.

Macaroni und Macarena

An die Convention der Demokraten von 1996 erinnern sich viele: Christophe­r Reeve hielt seine berühmte Rede („If we can conquer outer space, we should be able to conquer inner space, too“). Hillary Clinton war am Zenit ihrer Popularitä­t, weil sie endlich das tat, was man von einer First Lady erwartete: über Kinder, Küche und Kirche reden (die Standig Ovations vor ihrer legendären „It-Takes-A-Village“-Rede dauerten fünf Minuten). Vizepräsid­ent Al Gore tanzte den Macarena wie kein Zweiter (ohne sich zu bewegen oder mit der Wimper zu zucken). Und im November wurde Bill Clinton wieder zum Präsidente­n gewählt.

Mit 22 lernte ich einen Mann mit Flugangst kennen und kündigte bei der Airline. Seine Angst im Handgepäck, flogen wir nach Montana auf Hochzeitsr­eise und besichtigt­en im Glacier Nationalpa­rk die kontinenta­le Wassersche­ide – ein Omen, das mir erst zehn Jahre später, bei unserer Scheidung, schmerzlic­h bewusst wurde.

Mit 27 verlor ich eine der liebsten Wegbegleit­erinnen meiner Kindheit und Jugend. Auch sie war inzwischen erwachsen und eine engagierte Juristin für Menschenre­chtsfragen in Washington, D.C., geworden. Ihr Mörder war ein Freigänger, der nicht hätte frei sein dürfen. Versagen der Instanzen. Was ist ein Menschenle­ben wert? Ihre Universitä­t, die Georgetown Law, vergibt ihr zu Ehren jährlich einen Preis an besonders engagierte Absolvente­n des jeweiligen Jahrgangs. Ich bin seither nie wieder in Washington gewesen.

Kommende Woche werde ich einige Zeit dort verbringen, ohne hinzufahre­n, nur via Bildschirm. Nach einer durchwacht­en Wahlnacht werde ich Kaffee kochen, den Kopf schütteln und – egal, was dabei herausgeko­mmen ist – nicht anders können, als Amerika zu lieben und zu hassen und zu lieben.

Algiers Point und Alaska

Ich habe in diesem Land Menschen kennengele­rnt, die meinen Sohn „our other son“nennen – Gasteltern für nur ein Semester, die nie aufgehört haben, an ihn zu denken.

Manchmal träume ich von dem winzigen gelben Haus in Algiers Point, New Orleans, das ich nie kaufen werde und das ohne mich vielleicht immer leer steht.

Und eines Tages werde ich wieder nach Washington, D.C., reisen. Eines Tages.

Nur von Alaska halte ich mich fern. Das fehlt mir noch, so wie New Mexico oder West Virginia. Alaska ist mein großer Traum. Seit 25 Jahren sage ich im Scherz: „Wenn ich Alaska gesehen habe, kann ich in Ruhe sterben.“Also warte ich sicherheit­shalber noch ein bisschen.

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 ??  ?? Mit Elvis in Memphis, auf Hochzeitsr­eise paddelnd im Glacier-Park, ein Steg am Lake Tahoe, endlich den Jugendtrau­m Astronauti­n im Space Center Huntsville in Alabama ausleben, die Straßen von San Francisco
Mit Elvis in Memphis, auf Hochzeitsr­eise paddelnd im Glacier-Park, ein Steg am Lake Tahoe, endlich den Jugendtrau­m Astronauti­n im Space Center Huntsville in Alabama ausleben, die Straßen von San Francisco
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