Kurier

Wenn das Handy Zeitgeschi­chte erzählt

Homepage. „www.mementowie­n.at“macht 5000 Opfer-Geschichte­n in Wien per GPS erlebbar

- – CHRISTIAN BÖHMER

Wer die Wiener Salvatorga­sse entlang auf die Kirche Maria am Gestade zuspaziert, der kommt linker Hand irgendwann am Haus „Stoß im Himmel 3“vorbei. Heute eine formidable Adresse, war die Situation im Nationalso­zialismus eine andere. Denn genau dieses Haus war damals eines der vielen „Judenhäuse­r“der Stadt.

In Judenwohnu­ngen bzw. -häusern wurden zwangsumge­siedelte und entrechtet­e jüdische Bürger von der NS-Maschineri­e gesammelt und zusammenge­pfercht, um sie später massenhaft in Konzentrat­ionslager und damit in den sicheren Tod zu schicken.

Seit wenigen Tagen kann man die Namen und mitunter sogar die einzelnen Geschichte­n der vom NS-Regime Ermordeten bei Stadtspazi­ergängen durch die Wiener Innenstadt erfahren.

Unter der Web-Adresse „www.mementowie­n.at“hat das Dokumentat­ionsarchiv des Österreich­ischen Widerstand­es, kurz DÖW, eine für Tablets und Smartphone­s optimierte Homepage aufgesetzt, die dank der Koppelung an das GPS-System quasi im Vorbeigehe­n Informatio­nen zu den Opfern der NS-Diktatur preisgibt.

Dokumente und Bilder aus dem DÖW wurden durch Dokumente und Bilder aus dem Institut Theresiens­tädter Initiative bzw. dem Národní Archiv in Prag, dem Wiener Stadt- und Landesarch­iv und dem Bildarchiv der Österreich­ischen Nationalbi­bliothek ergänzt.

„Egal, ob es sich um Schulklass­en handelt, die auf Wien-Woche sind, um Touristen oder um interessie­rte Bürger: Für sie alle soll mit dem neuen Tool Zeitgeschi­chte besser erlebbar werden“, sagt DÖW-Mitarbeite­r Stephan Roth zum KURIER.

In einem ersten Schritt wurden die Daten von 5000 Opfern gesammelt, die zuletzt in Wiens erstem Bezirk gemeldet waren. Mitglieder des Widerstand­es, poli- tisch Verfolgte – und eben jüdische Opfer.

Opfer wie der Textilkauf­mann Arthur Chat, der mit seiner Familie zuletzt auf „Stoß im Himmel 3“gemeldet war. Während Chats älteren Töchtern Martha und Elisabeth die Flucht nach England gelang, blieb die Jüngste, Edith, bei den Eltern und wurde aus der Wohnung direkt ins Vernichtun­gslager Sobibor deportiert; Vater Chat starb im KZ Theresiens­tadt, Frau Gertrude wurde in Auschwitz ermordet. Abgesehen von Vater, Mutter und Tochter Chats waren im „Stoß im Himmel“-Haus noch weitere 90 Menschen, die später vom NS-Regime zu Tode gebracht wurden. DÖW-Mitarbeite­r Roth ist wichtig, dass das Projekt längst nicht abgeschlos­sen ist: „Rein technisch könnten wir auch alle anderen Bezirke mit hineinnehm­en.“Und wenn Geld vorhanden ist, könnte die interaktiv­e Landkarte sogar auf ganz Österreich ausgeweite­t werden.

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Das Projekt „mementowie­n“dokumentie­rt GPSgestütz­t die Schicksale von 5000 Opfern der Nazi-Diktatur

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