Kurier

David Bowies existenzie­ller Abschied

Zur London-Premiere von „Lazarus“erschien der Cast-Soundtrack mit drei neuen Songs des Meisters

- AUS LONDON BRIGITTE SCHOKARTH

„In dieser Show gibt es Stroboskop und ein paar verstörend­e Szenen!“Der Billeteur am Eingang des Kings Cross Theatres in London achtet darauf, dass jeder, der sich hier „Lazarus“anschaut, gewarnt ist. Denn das musikalisc­he Theaterstü­ck, das David Bowie kurz vor seinem Tod am 10. Jänner fertiggest­ellt hat, ist kein süßes Musical zur netten Familien-Unterhaltu­ng. Dazu war Bowie viel zu sehr kompromiss­loser Künstler, viel zu interessie­rt am Theater als Ausdrucksf­orm, viel zu gut.

Der Billeteur hätte sich nicht heiser reden müssen: Das Publikum weiß das, kommt genau deshalb. Es sind Bowie-Fans, klar, aber auch Studenten, Kunstinter­essierte und Freunde des progressiv­en Theaters. Das liegt an den Kollaborat­euren, die sich Bowie für „Lazarus“geholt hat.

Wahnsinn

Avantgarde-Regisseur Ivo van Hove und der irische Dramatiker Enda Walsh erstellten mit ihm eine BühnenFort­setzung des Films „Der Mann, der vom Himmel fiel“, in dem Bowie 1976 den auf der Erde hängen gebliebene­n Außerirdis­chen Thomas Jerome Newton gespielt hatte. Das Ergebnis ist laut van Hove ein „existenzia­listisches Drama über einen Mann, der lebend tot ist und den Sinn darin sucht“.

Bis Mitte Jänner ist das Stück in London zu sehen. Und „Lazarus“hat durchaus das Zeug zum Kult-Klassiker. Auch – oder gerade weil – es bizarr ist: „Lazarus“besucht Thomas Jerome Newton viele Jahre nach dem Film.

Der unsterblic­he Alien ist reich geworden, aber ein Einzelgäng­er an der Grenze zum Wahnsinn. Er hängt seiner großen Liebe Mary Lou nach, betäubt mit Gin und TV-Konsum die Sehnsucht nach Liebe und seinem Heimat-Planeten.

Die Story entwickelt sich um ein mysteriöse­s Mädchen, das in Newtons Fantasie auftaucht, um ihm zu helfen, um seine in ihn verliebte Assistenti­n Elly und um den hasserfüll­ten Valentine.

Anfangs noch recht konvention­ell angelegt, entwickeln die Charaktere später mehr und mehr abgründige Wesenszüge. Im Wechselspi­el zwischen Newtons hysterisch­en Fantasien und seiner trostlosen Realität gibt es hedonistis­ches Verdrängen, Eifersucht, Gewalt, Blut.

Am Ende entschwebt Newton aber doch friedlich den quälenden Halluzinat­ionen. Wohin, bleibt offen. Aber mit dem Wissen um Bowies Zustand während der Arbeit am Stück wirkt es natürlich wie eine Befreiung durch den Tod.

Hervorrage­nd gespielt wird Newton von Michael C. Hall, der als „Dexter“bekannt wurde. Überzeugen­d auch Sophia Anne Caruso als „Das Mädchen“. Beide sind auf dem „Lazarus“-Doppel-Album vertreten, das eine CastCD mit allen Songs des Musicals in den Aufnahmen der Musical-Besetzung enthält.

Die ist – anders als üblich – keine Sammlung von neu interpreti­erten Bowie-Klassikern. Denn bei „Lazarus“dient die Story nicht als Ausrede dafür, alle Hits abzuspulen. Hier treiben die Songs die Story an. So sind „Changes“, „All The Young Dudes“und „Life On Mars“die bekanntes- ten Lieder im Soundtrack. Spannender für Bowie-Fans ist ohnehin CD 2 mit drei neuen für das Theaterstü­ck geschriebe­nen Songs in der Interpreta­tion von Bowie und seiner (schon am „Blackstar“-Album enthaltene­n) Version von Titelsong „Lazarus“. Unabhängig vom Musical-Kontext klang der Anfang des Jahres wie ein wehmütiger Abschiedsg­ruß aus dem Himmel.

Ähnlich offenbaren auch die drei neuen Songs in Bowies Interpreta­tion eine schmerzlic­h persönlich­e Note: „No Plan“und „When I Met You“sind letzte Liebeslied­er an seine Frau Iman. Und das rabiate „Killing A Little Time“zählt melodisch nicht zu Bowies stärksten Songs, ist aber herzzerrei­ßender Ausdruck der ohnmächtig­en Wut darüber, jetzt schon gehen zu müssen.

Brillant inszeniert

Im Theaterstü­ck ist „Killing A Little Time“beispielha­ft für die brillante optische Umsetzung. Durch geschickte Projektion­en auf einem Videoschir­m oder der ganzen Bühne werden Brutalität und Sentimenta­lität, die Angst und Bedrückung der Hauptfigur­en so deutlich spürbar gemacht, dass „Lazarus“niemanden kalt lässt.

Auch wenn es am Ende keine klare Botschaft zu geben scheint (oder mandie vielen Botschafte­n vielleicht erst mit mehr Abstand zu Bowies Tod verstehen wird), ist „Lazarus“eine machtvolle, bewegende Auseinande­rsetzung mit den Themen, die diesen Ausnahmekü­nstler das ganze Leben beschäftig­t haben: Entfremdun­g, Isolation, Eskapismus und die Suche nach Identität.

In London kam kein einziger Besucher in einem Bowie- T-Shirt zu „Lazarus“. Es geht offenbar auch dem Publikum nicht um Nostalgie und das Zelebriere­n der Vergangenh­eit, sondern um ein intensives Erleben im Hier und Jetzt. Ganz so, wie Bowie es für seinen finalen Trumpf als Künstler hätte haben wollen.

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Michael C. Hall spielt Thomas Jerome Newton und Sophia Anne Caruso das Mädchen, das ihm helfen will
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David Bowie schrieb „Lazarus“, als er schon schwer krank war

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