Wenn Schach mehr ist als nur ein Spiel
Kampf der Charaktere, Generationen, politischen Systeme – und Mensch gegen Maschine
Halbzeit bei der Schach-Weltmeisterschaft in New York. Nach sechs Partien steht es 3:3. Am Freitagabend einigten sich der russische Herausforderer Sergei Karjakin (26) und der norwegische Titelverteidiger Magnus Carlsen (25) nach nur eineinhalb Stunden Spielzeit auf ihr sechstes Remis. Noch ist offen, ob das Duell – das heute, Sonntag, um 20 Uhr (MEZ) fortgesetzt wird – einen ebenso starken Eindruck hinterlassen wird wie folgende historische Zweikämpfe. 1910: Lasker vs. Schlechter Der Wiener Carl Schlechter ( Bild 1: 2. v. re.) tritt gegen den Weltmeister Emanuel Lasker an, um als zweiter Österreicher nach Wilhelm Steinitz (1886–1894) den Titel zu holen. Fünf Partien finden in Wien statt, fünf in Laskers Heimat Berlin. Schlechter geht überraschend in Führung. Im letzten Spiel reicht dem Verteidigungskünstler ein Unentschieden, doch ausgerechnet diesmal hält er den wilden Angriffen seines Gegners nicht stand. Die Vermutung liegt nahe, dass Schlechters Charakter nicht der eines Siegers war. Obwohl Berufsschachspieler, nimmt er Prämien selten ungeteilt an, ist die Bescheidenheit in Person und lässt sich nicht gerne helfen. Er stirbt im Dezember 1918 an einem durch Unterernährung wieder akut gewordenen Lungenleiden. 1972: Fischer vs. Spasski Um 17 Uhr beginnt in Reykjavik die erste Partie. Titelverteidiger Boris Spasski (UdSSR) zieht den weißen Bauern auf d4, drückt den Knopf der Schachuhr. Jetzt läuft die Zeit für Bobby Fischer (Bild 2: re.). Doch der ist nicht da. Dann endlich schreitet der Amerikaner zum Tisch, entschuldigt sich, dass er im Stau stecken geblieben ist, und nimmt das Spiel auf, das als „Match des Jahrhunderts“in die Geschichte eingeht. Wie kein zweites Ereig- nis bestimmt es in den nächsten Wochen die Schlagzeilen: Der Kampf ist nicht nur ein Schachspiel, sondern ein Stellvertreterduell zweier verfeindeter politischer Systeme mitten im Kalten Krieg. Mehrmals droht der exzentrische, egoistische und unberechenbare Fischer abzutreten. Der nachgiebige Spasski geht auf Fischers Forderung nach veränderten Turnierbedingungen ein. In 21 Partien ringt der 29Jährige den 35-jährigen Russen nieder. 1984: Karpow vs. Kasparow Die Rollen sind klar verteilt am 10. September 1984. Anatoli Karpow (damals 33 Jahre alt) ist der unumstrittene König der Schachwelt, ein Superstar in der UdSSR und vom Regime geliebt. Garri Kasparow, 21, ist in Baku im heutigen Aserbaidschan geboren, heißblütig und kontrovers. Sechs Siege sind für den Triumph nötig, und Karpow geht mit 4:0 Siegen in Führung. Dann zermürbt ihn Kasparow mit 17 Remisen in Folge. Nach der 48. Begegnung wird beim Stand von 5:3 regelwidrig abgebrochen – offiziell aus Sorge um die Gesundheit der Spieler. Ein Skandal. Dem angeschlagenen Karpow hilft die Schonzeit allerdings nicht, den Wiederholungskampf gewinnt Kasparow. 1996: Kasparow vs. Deep Blue 1980 behauptet Kasparow, niemals von einem Computer besiegt werden zu können. 1989 schlägt er den von IBM konstruierten Deep Thought. 1996 spielt er unter Wettkampf bedingungen gegen Deep Blue – und verliert prompt die erste Partie. Es ist der Premierensieg einer Maschine gegen den amtierenden Weltmeister. 2013: Anand vs. Carlsen Erstmals seit 1921 sitzt kein Spieler aus der (ehemaligen) Sowjetunion bei der WM am Tisch. Im indischen Chennai fordert der aufstrebende Jungstar Magnus Carlsen (22) den Titelträger und Lokalmatador Viswanathan Anand (43). Millionen verfolgen die Übertragung des Duells im Internet, das norwegische TV erreicht Marktanteile von 40 Prozent. Carlsen gewinnt souverän und ist nach Kasparow zweitjüngster Weltmeister der Geschichte. Der österreichische Schachhistoriker Michael Ehn stellt fest: „Schach auf diesem höchsten Niveau ist offenkundig etwas für junge Gehirne.“