Kurier

Das Vermächtni­s, aus der Zukunft gesprochen

Roger Willemsen arbeitete vor seinem Tod an einem Rückblick auf die Menschen von heute

- VON PETER PISA

Er ist viel gereist, bis ans Ende der Welt ist er gereist: Das Ende ist ein WC in Patagonien, das ist auch ein Bahnhof in Birma, ein Bordell in Bombay, eine Klippe in Tonga … demnach war Tausendsas­sa Roger Willemsen etwas überrascht, als er in Nepal von einer alten Frau erfuhr:

Sie war nie auf der anderen Straßensei­te.

Deshalb hat er sie gefragt, ob es sie denn überhaupt nicht interessie­re, was drüben los sei.

Hat die alte Frau geantworte­t: „Nach meinem Tod kann ich immer noch nachschaue­n …“

So etwas braucht Roger Willemsen jetzt nicht zu machen. Er war ja zu Lebzeiten hier und dort und drüben, und in der Zukunft war er kurz vor seinem Tod (heuer im Februar) als 60-Jähriger auch noch.

„Wer wir waren“heißt jener Text, an dem der Publizist arbeitete, als er von seiner Krebserkra­nkung erfuhr. Dann hat er damit aufgehört. Der Text ist also keineswegs fertig, sondern bloß ein Gerüst für jene Gedanken, die nicht mehr folgen durften.

Die letzte Rede, die der deutsche Paradeinte­llektuelle öffentlich gehalten hat, konnte von ihm gerade noch auf rund 60 Seiten ausgebaut werden.

Verzweifel­n

Man spürt, was Roger Willemsen als Kind, das nicht einschlafe­n konnte, seiner Mutter gesagt hat: „Mein Gehirn hört nicht auf!“

Das verlangt er posthum auch beim Lesen. Schnell geht das nicht. Roger Willemsen hat den Blick derjenigen versucht, die erst kommen – „und an uns verzweifel­n werden.“

Aus der Zukunft gesprochen, standen wir vor der Entmündigu­ng durch Dinge, denen wir Namen gaben wie „System“, „Ordnung“, „Marktsitua­tion“.

Aus der Zukunft gesprochen, lebten wir wie Menschen, die sich in der Tür umdrehen, noch etwas sagen wollen – aber nichts mehr zu sagen haben.

Zitat: „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden … voller Informatio­n, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung.“

Was er aufgeschri­eben hat, ist ernster als sonst. Willemsens Ironie fehlt weitgehend. Es war ihm sehr ernst. Fehlende Leidenscha­ft tat ihm weh (wenn man bedenkt, dass ausgerechn­et er in der Schule zwei Mal sitzen blieb „wegen mangelnder Leidenscha­ft für das, was ich können sollte“).

Sein Vermächtni­s ist ein Besinnen auf die Macht des Einzelnen. Auf Regentropf­en und Vogelgesan­g. Auf Radieschen und Gurken. Auf das Moralische. Auf das Spirituell­e. Und sonst ... öfter Nein sagen.

„Wer wir waren“erscheint morgen, Donnerstag.

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„Mein Gehirn hört nicht auf“: Roger Willemsen (1955–2016)
 ??  ?? Roger Willemsen: „Wer wir waren“Herausgege­ben von Insa Wilke. S. Fischer. 60 Seiten. 12,40 Euro. KURIER-Wertung:
Roger Willemsen: „Wer wir waren“Herausgege­ben von Insa Wilke. S. Fischer. 60 Seiten. 12,40 Euro. KURIER-Wertung:

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