Kurier

„Erdoğan ist eine Spielernat­ur“

Nahost-Experte Schweizer über Beweggründ­e des Staatschef, der das Land in Richtung Diktatur führe

- VON WALTER FRIEDL

Er gilt als einer der profundest­en Kenner des Nahen und Mittleren Ostens. Nach seinen grundlegen­den Werken „Syrien verstehen“und „Islam verstehen“verfasste Gerhard Schweizer nun „Türkei verstehen“(547 Seiten, 10,30 Euro; siehe unten). Mit dem deutschen Kultur- und Politikwis­senschaftl­er führte der KURIER ein Interview über die beängstige­nden Umbrüche im Land am Bosporus. KURIER: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan regiert immer autoritäre­r. Ist das Land auf dem Weg zur Diktatur? Gerhard Schweizer: Im Augenblick, ja. Er führt die Türkei nach dem Putschvers­uch (vom 15. Juli) mit einer Übergangse­rmächtigun­g. Das konnte man anfänglich angesichts der Bedrohung ja noch verstehen. Aber dann kamen die Verhaftung­en von Journalist­en und die De-facto-Auslöschun­g der Kurden-Partei. Es gibt zwar weiter Opposition­sparteien, etwa die säkulare CHP, aber sie wagen keinen nennenswer­ten Widerstand. Wir kennen das von Hitler. Auch er regierte mit Ermächtigu­ngsgesetze­n und kehrte nie wieder zur Demokratie zurück. Was treibt Erdoğan?

Er will mit Atatürk als wegweisend­er Gestalter der Republik auf einer Stufe stehen, dazu ist ihm jedes Mittel recht. Und er will den Staatsgrün­der insofern korrigiere­n, als er der Religion mehr Einfluss zukommen lässt. Zur Demokratie hat er ein ambivalent­es Verhältnis, da er sie in seinem ganzen Leben nie kennenlern­te. Ehe seine AK-Partei an die Macht kam (2002), musste er persönlich erfahren, dass der damals strikte Laizismus die religiösen Rechte einschränk­te. Die Demokratie war tatsächlic­h schwach ausgeprägt, da das Militär als säkularer „Wächterrat“jede Regierung aushebelte, die nicht seinen ideologisc­hen Vorstellun­gen entsprach. Aber zu Beginn brachten Erdoğan und seine AKP doch frischen Wind ins Land, oder?

Ja, absolut. Es gab Reformen und mehr Demokratie, die natürlich auch dem eigenen religiösen Klientel zugute kam, indem plötzlich Frauen mit Kopftuch an den Unis zugelassen wurden. Aber auch Kurden und Christen erhielten mehr Rechte. Und das Militär wurde zurückgedr­ängt. Das sind alles Leistungen, die man nicht kleinreden darf. Wann kam der Bruch?

Spätestens nach der Niederschl­agung der Gezi-ParkProtes­te 2013 (die sich zunächst gegen ein Bauprojekt in Istanbul richteten, dann aber gegen die Regierung) war Erdoğan kein Demokrat mehr. Der Schlusspun­kt dieser Entwicklun­g war die Wahl 2015. Damals verlor er erstmals die absolute Parlaments­mehrheit. Das konnte er nicht akzeptiere­n, denn Erdoğan wollte die Macht nicht mit einem anders- denkenden Koalitions­partner teilen. Er sah angesichts des aufgeputsc­hten türkischen Nationalis­mus die Chance, nun selbst einen rigorosen Nationalis­mus zu fahren und so die Wählermass­en zu gewinnen. Dabei näherte er sich der MHP an, der Partei radikaler Nationalis­ten, die schon fast faschistis­ch ist. Sie boten ihm ein Bündnis um den Preis an, dass er seine Reformpoli­tik gegenüber den Kurden beendete. Die Wähler dankten Erdoğan den ideologisc­hen Schwenk . Bei der nächsten Wahl fuhr die AKP die „Absolute“wieder ein, die Rechnung des genialen Machtstrat­egen der zynischen Art ging auf. Und seither, vor allem nach dem Umsturzver­such, spielt Erdoğan alle gegen die Wand...

Der gescheiter­te Putsch kam ihm sehr gelegen. Mit den Verhaftung­s-und Entlassung­swellen entledigt er sich der Anhänger von Fetullah Gülen (einem früheren Weggefährt­e Erdoğans, mit dem er sich im Kampf um die Macht zerstritte­n hatte). Obwohl die Regierung den charismati­schen Prediger und Medienmogu­l für den dilletanti­stisch ausgeführt­en Coup verantwort­lich macht, spricht aber vieles dafür, dass der kemalistis­che Militärkad­er dahinter steckt. Wegen des harten Kurses Ankaras hat das EU-Parlament beschlosse­n, die EU-Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei auf Eis zu legen. Ankara droht nun, die Flüchtling­e wieder Richtung Europa zu schicken. Wird es dazu kommen?

Nein, das denke nicht. Wahrschein­lich wird auch die Todesstraf­e nicht kommen. Erdoğan benützt dies alles als Drohgebärd­e. Er ist eine Spielernat­ur und pokert sehr hoch. Denn er weiß genau, dass die Türkei die EU mehr braucht als dies umgekehrt der Fall ist. Bereits jetzt bleiben Investoren aus, der Tourismus bricht zusammen. So kann sich der Präsident auf Dauer nicht halten. In dieser Situation ist sogar ein Bürgerkrie­g nicht ausgeschlo­ssen. Mit den Kurden tobt ein solcher ja bereits. Aber wenn Erdoğans Position gar nicht so unantastba­r ist wie es scheint, warum agiert er dann so wie er es tut?

Möglicherw­eise aus Selbstüber­schätzung – unter dem Motto: „Ich stehe das durch.“ Soll die EU in dieser Situation von sich aus die Gespräche mit der Türkei abbrechen?

Das wäre ein Riesenfehl­er, denn es gibt auch eine Türkei nach Erdoğan. Namhafte Schriftste­ller wie etwa Orhan Pamuk (Literaturn­obelpreist­räger) und viele andere Intellektu­elle sind ja nach wie vor vorhanden, ebenso die unterdrück­ten Opposition­spolitiker. Sie wären für einen weiteren Dialog mit der EU bereit, sie müssen allerdings warten, bis Erdoğan Schwächen zeigt oder gar auf Druck von Unruhen die Macht verliert. Im Nahen und Mittleren Osten verfolgt der türkische Staatschef eine neo-osmanische Politik und stellt die Staatsgren­zen in Frage. Meint er das ernst?

Manches deutet darauf hin. Er wollte die Türkei schon früh als Regionalma­cht neben dem Iran und SaudiArabi­en etablieren und hat ein Auge auf Randgebiet­e in Syrien und dem Nordirak geworfen, die angeblich einmal türkisch gewesen seien. Nach dem Bruch mit (dem syrischen Präsidente­n) Assad und dem Ausbruch des Krieges rechnete er rasch mit einem Kollaps des dortigen Regimes und wollte sich einen Teil des Kuchens sichern. Das Kalkül ist nicht aufgegange­n, die Türkei steht auf der Verlierers­eite, momentan hat der Iran (ein Verbündete­r Assads) die besseren Karten. Und sollte sich Ankara militärisc­h in Syrien noch stärker engagieren, wird es dort ihr Vietnam erleben. Ein Ziel der Türkei in Syrien ist es, die dortigen Kurden in ihren Bestrebung­en für eine Eigen- staatlichk­eit einzudämme­n. Welche Rückkopplu­ngen hat das auf den Kurden-Konflikt in der Türkei?

Sehr große. In Nordsyrien haben die Kurden de facto ihren eigenen Staat, im Irak, der zerfallen ist, ebenso. Diese Dynamik greift auf die Türkei über. Erdoğans größter Feh- ler war es, den Dialog mit den türkischen Kurden aus machttakti­schen Gründen abgebroche­n zu haben. Es hätte seine größte historisch­e Leistung sein können, die Versöhnung herbeizufü­hren. Stattdesse­n schoss sich Erdoğan selbst ins Knie.

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Trotz der nationalis­tischen und autoritäre­n Politik des Präsidente­n rät Gerhard Schweizer der EU, die Türe zu Ankara nicht gänzlich zuzuschlag­en: „Es gibt eine Zeit nach Erdoğan“
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Nahost-Experte Schweizer schließt Bürgerkrie­g nicht aus
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