Kurier

Im Refrain geht es um Schmerz

Neue Autobiogra­fien von Marie Fredriksso­n, Phil Collins, Marina Abramović und Bruce Springstee­n (v. li. und o. n. u.).

- VON GEORG LEYRER

Die Popmusik hat, mitsamt der dahintümpe­lnden Untergrupp­e Rock, zuletzt viele ihrer einstigen Aufgaben abgeben müssen. Längst ist sie nicht mehr der Soundtrack der jeweils jungen Generation; das ist lange Jahre die elektronis­che Musik gewesen; nunmehr ist es das, was der Streaminga­lgorithmus halt so aussucht. Pop ist in der Politik gerade noch dazu gut, die Generation 30+ zum Wählen zu motivieren. Und auch als emotionale­s Ventil für die schwierige­n Jahre der Erwachsene­nwerdung muss er nicht mehr alleine sorgen – dafür gibt es jetzt YouTube-Stars und Snapchat-Dialoge.

Pop ist schal und schwierig gewordenes Business und Begleitmus­ik beim Autofahren (was übrigens auch immer weniger junge Menschen machen).

Plötzlich betroffen

Rechtzeiti­g zum heurigen Weihnachts­geschäft aber ist plötzlich alles wieder anders: Pop berührt, ja macht sogar betroffen. Nicht als Musik, sondern als Buch.

Denn einige der zentralen Menschen der großen Zeit haben Autobiogra­fien veröffentl­icht; deren Lektüre geht über den in Starbiogra­fien üblichen (und durchaus auch schon spannenden) Blick ins Wohnzimmer hinaus. Und macht Menschen sichtbar, die trotz allem Ruhm – oder für diesen – leiden, in einer Ehrlichkei­t, die überrascht und stellenwei­se überrumpel­t. Die Autobiogra­fien von Bruce Springstee­n, Phil Collins, Brian Wilson und Marie Fredriksso­n von Roxette erschienen in einem Pop-Jahr, das ohnehin von vielen schweren Gedanken geprägt war, und Phil Collins hat es in „Da kommt noch was“(Heyne, 24,99 Euro) vermerkt: „2016 haben wir viele Künstler meiner Generation verloren. Anlass für mich, über meine Sterblichk­eit und Schwächen nachzudenk­en.“Der Genesis-Frontmann und Solohitlie­ferant („In The Air Tonight“) gibt tiefe Einblicke, in die Gehörschäd­en, die das Schlagzeug­spielen hinterließ, in seine Al- koholsucht, in seine gescheiter­ten Beziehunge­n (und hat sich gleich eine Klage seiner ersten Frau eingehande­lt).

Auch Bruce Springstee­n macht in „Born To Run“(Heyne, 27,99 Euro) keinen Hehl daraus, dass er abseits der Bühne gegen eine schwere Krankheit ankämpfen musste: Er leidet an schweren Depression­en, die stundenlan­gen Auftritte, für die Springstee­n bekannt ist, waren seine Rettung. Auch die schwie- rige Beziehung zu seinem Vater macht Springstee­n nun detaillier­ter öffentlich, als es in seinen Songs möglich ist: „Er liebte mich, konnte mich aber nicht leiden.“

Collins und Springstee­n sind bekannt dafür, in ihrer Musik auch die dunklen Seiten des Lebens zu besuchen. Roxette, das große schwedisch­e Popduo der 1990er Jahre, tat das nicht: Songs wie „Joyride“, „Listen To Your Heart“und „Sleeping In My Car“sind Vehikel für jene Form der gutgelaunt­en Ablenkung von der Welt, die die Popmusik auszeichne­t.

Vielleicht auch deswegen ist die Autobiogra­fie von Sängerin Marie Fredriksso­n jene, der man sich am vorsichtig­sten nähert. Bei Fredriksso­n wurde 2002 Krebs diagnostiz­iert; und in „Listen To My Heart. Meine Liebe zum Leben“(edel, 19,95 Euro) erzählt sie, „wie es ist, von diesem Schicksal getroffen zu werden“. Ein kraftvolle­r Akt, wie jene Tourneen, auf die Fredriksso­n – schon erkrankt – gegangen ist. „Ich werde mich niemals hinlegen und sterben“, schreibt sie.

„I am Brian Wilson“, die Autobiogra­fie des „Beach Boys“-Genies, ist „eine Geschichte über Musik, Familie, Liebe – und über eine geistige Erkrankung“, und (derzeit nur auf Englisch) trotz schwächere­r Passagen lesenswert. Kein Pop, aber die eindringli­chste Schilderun­g der Rolle von Schmerz für die Kunst ist die Autobiogra­fie von Marina Abramović, „Durch Mauern gehen“(Luchterhan­d, 28 Euro).

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