Für eine Stunde die Sorgen vergessen
Agnes schiebt sich durch die kleine Tür zur Ausgabestelle. Ihren kleinen Sohn an der einen, eine Reisetasche in der anderen Hand, zwei Rucksäcke auf dem Rücken. Agnes nimmt Erdäpfel. Und drei Packerl Milch. Linsen. Karfiol. Äpfel. Salat. Orangen. Brot. Joghurt. Pommes. Mayonnaise-Salat. Krapfen.
3,50 Euro zahlt die 38Jährige für diesen Einkauf in der Canisius-Pfarre in WienAlsergrund. Dort hat die Caritas Wien eine Lebensmittel- Ausgabe des Projekts LeO
eingerichtet. Um den symbolischen Beitrag von 3,50 Euro können armutsgefährdete Menschen Lebensmittel einkaufen, die sonst im Müll gelandet wären
Die Pfarren bereiten Tee und Kaffee für die Klienten vor. Diesen stehen zusätzlich Sozialarbeiter zur Seite, die sie über Wege aus der Armut beraten.
In einer fünfteiligen Serie stellt der KURIER die Men- schen hinter dem Projekt LeO vor und lässt jene zu Wort kommen, die ohne LeO nicht über die Runden kommen würden.
Scham
So wie Agnes (38). Sie ist alleinerziehende Mutter. Ihr Sohn Josef ist dreieinhalb Jahre alt, Tochter Sofia sieben Jahre (
Seit sechs Jahren lebt Agnes mit ihren Kindern in Wien. Sie findet keinen Job, lebt von der Mindestsicherung. Dass sie zur Lebensmittelausgabe in die Pfarre kommt, hat sie nur ihren engsten Freunden erzählt. „Es war mir unangenehm“, sagt sie.
Agnes habe lange überlegt, die Hilfe überhaupt anzunehmen. „Aber ich denke, dass ich alles getan habe, um diese Situation zu verhindern. Irgendwann überwindet man sein Schamgefühl.“Mit den Lebensmitteln, die sie bei LeO erhält, kommt die Familie ein paar Tage lang aus.
Jede Woche holen freiwillige Helfer die Produkte aus den Lagern der Supermärkte ab und bringen sie in die Pfarren. Dort werden die Lebensmittel einmal pro Woche ausgegeben. In jedem Bezirk an einem anderen Tag. In der Canisius-Pfarre ist es der Donnerstag. Und schon vor Beginn der Ausgabe um 14 Uhr stehen die Menschen vor dem Eingang Schlange.
Hunger
Da ist Mayssa (46), die mit ihren zwei Kindern aus Syrien geflohen ist. Ihr Mann wurde im Krieg erschossen. In Wien hat sie Asyl bekommen.
Da ist Siegmund (44), der zum ersten Mal die Hilfe von LeO in Anspruch nimmt. Seine Frau hat vor Kurzem ihr zweites Kind geboren, Siegmund kann derzeit nur geringfügig arbeiten. Er hofft, dass er die Unterstützung nur vorübergehend in Anspruch nehmen muss. „Ich will den wirklich Armen nichts wegnehmen“, sagt er.
„In Österreich muss vielleicht niemand verhungern, aber gehungert wird auch bei uns“, sagt Caritas-Präsident Michael Landau.
Es sind viele Migranten, die sich um Lebensmittel anstellen und immer mehr Flüchtlinge, aber auch Österreicher. „Es steht jedem frei, zu uns zu kommen“, sagt Christine Peters, die die Lebensmittelhilfe in der Canisius-Pfarre koordiniert. So mancher Österreicher sei zu stolz, Hilfe anzunehmen und jenen, die das tun, dann neidig: „Manche kommen nicht, weil sie ja die Nachbarin sehen könnte. Da braucht man schon eigenartige Gehirnwindungen, um das zu verstehen“, sagt Peters.
Agnes hat ihre Scham überwunden. Und es nicht bereut. „Ich kann hier für eine Stunde meine Sorgen vergessen und auch einmal einen Kaffee trinken“, sagt sie. Das bedeute ihr so viel, dass sie allen Freiwilligen in der Pfarre heuer etwas schenken möchte. „Ich will nicht immer nur nehmen, sondern auch etwas geben.“