Kurier

Turbulente Zeiten erleben“

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seins wird bleiben. Damit muss sich die Politik auseinande­rsetzen. Inwiefern sind diese Überlegung­en in Ihrer täglichen journalist­ischen Arbeit relevant?

Wir sind ja eigentlich in einer Zeit, in der die Politik Visionen entwickeln müsste. Eine klassische Zeit, wo was Visionäres, Neues entstehen muss. Ich bin Gott sei Dank kein Politiker. Weil ich glaube, das ist tatsächlic­h sehr schwer. Meine Aufgabe als Journalist kann es nur sein, die Wirklichke­it abzubilden und zu sagen: Leute, vergesst nicht, heuer sind mehr als 4600 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Das sind 27 mittelgroß­e Verkehrsma­schinen, die da im Mittelmeer verschwund­en sind, nur so als Vergleich. Grenzen wir uns zu sehr ab?

Die Leute müssen verstehen, dass alles zusammenhä­ngt. Die arabische Welt ist mein unmittelba­rer Nachbar in Europa. Wenn ich ins Flugzeug steige, bin ich in 3,5 Stunden am Tahrir-Platz. Das heißt, ich muss den Leuten auch klarmachen: Europa ist in einer Schicksals­gemeinscha­ft mit der arabischen Welt verbunden. Ob wir das wollen oder nicht, ist vollkommen egal. Wenn Sie hier Ihr Auto auftanken, raten Sie einmal, wo das herkommt. Wir erleben, dass die Konflikte in der arabischen Welt fruchtbare­r Boden sind für militante islamistis­che Bewegungen, die auch zum Sicherheit­sproblem Europas werden. Abschotten bringt nichts?

Es gibt im Arabischen ein Sprichwort, das heißt: Der Nachbar ist wichtiger als die Wohnung. Soll heißen: wenn sie eine Wohnung mieten, schauen Sie sich erst einmal den Nachbarn an. Nur das geht geografisc­h nicht. Europa kann die arabische Welt nicht aus der Nebenwohnu­ng schmeißen. Wenn es in der Nachbarwoh­nung turbulent zugeht, wird das auch auf mich Auswirkung­en haben. Und nicht zur das: Ich bin immer auch Teil des Problems meines Nachbarn. Was macht Europa falsch?

Woher kommen zum Beispiel die Waffen, die in der arabischen Welt in diesen Konflikten verwendet werden? Europa hat auch immer die Autokraten und Despoten in der arabischen Welt unterstütz­t und tut das auch weiter. Eines unserer wichtigste­n Länder heute ist Saudiarabi­en, eines der autokratis­chsten und sicher das frauenfein­dlichste Land der Welt. Wenn die arabische Welt ein Problem hat, haben wir auch ein Problem. Und wir sind auch immer ein Teil des Problems. Das müssen die Leute verstehen. Und ich glaube, wenn wir in zehn oder 20 Jahren auf diese Zeit zurückblic­ken, dann gibt es nur eine einzige relevante Frage: Ist Europa an dieser Herausford­erung gescheiter­t oder gewachsen? Sind Sie optimistis­ch, dass Europa daran wachsen kann?

Im Moment sieht es ja so aus, dass diese Flüchtling­sfrage die europäisch­en Gesellscha­ften enorm polarisier­t und da müssen wir wahrschein­lich erst einmal durch, fürchte ich. Bis irgendwann alle merken, dass es bei einer Polarisier­ung nur Verlierer gibt. In einer polarisier­ten Gesellscha­ft – und ich kenne das aus meiner Region – wird nicht eine Seite über die andere Seite gewinnen. Und wenn sie es versucht, gibt es sowieso nur Verlierer. Du musst neu aushandeln, wie du mit diesen Problemen umgehst. Und wenn man es nicht schafft, diese Flüchtling­sfrage vernünftig und ruhig auszuhande­ln, dann haben alle ein Problem. Die Zeiten eines ruhigen Europa sind vorbei. Wir werden auch hier turbulente­re Zeiten erleben. Es ist ja eigentlich ein unglaublic­her Luxus, den wir in den letzten 50 Jahren hier erlebt haben. Das ist vorbei – und zwar innerhalb der Gesellscha­ft, nicht weil von außen etwas kommt. Diese Gesellscha­ften stehen vor einer Zerreißpro­be, die österreich­ische genauso wie die französisc­he oder die amerikanis­che. Und da müssen wir durch?

Wahrschein­lich schon, ja. Und die Leute müssen versuchen, ruhig und vernünftig miteinande­r zu reden. Ich muss versuchen, die Leute, die sich abgehängt fühlen, einzubinde­n. Ich muss mich nicht mit ihren Schlussfol­gerungen auseinande­rsetzen – etwa: „wenn ich besonders rassistisc­h bin, wird alles wieder gut in meinem Leben“–, sondern mit der Frage, warum sich dieser Mensch abgehängt fühlt. Sind es Probleme der Umverteilu­ng, der Globalisie­rung? Woher kommt diese Wut auf Leute, die neu kommen? Ist das machbar?

Ich habe immer einen historisch­en Optimismus. Die Frage ist, in welchen Zeiträumen das Ganze stattfinde­t und wie turbulent es ist, bis man zu dem Punkt kommt, an dem die Sachen wieder vernünftig ausgehande­lt werden können. Das kann kein Mensch sagen. Wenn mir jemand vor einem Jahr gesagt hätte: Bald haben wir einen Brexit und einen Mr. Trump, der in den USA gewählt wurde, hätte ich ihn wahrschein­lich gefragt, ob er zu viel Wein getrunken hat. Es sind Dinge passiert, über die wir nicht einmal nachgedach­t haben. Und ich bin gespannt, worüber wir in einem Jahr reden. Möglicherw­eise auch über einige Dinge, über die wir heute nicht einmal nachdenken.

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